Bube, Dame, König. Fabian Vogt
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Vielleicht liegt mir das Hin- und Hergerissensein aber auch im Blut. Schon mein Vater kannte die Not, zwischen zwei Welten wählen zu müssen. Er entschied sich als junger Mann für Amelie, die betörende Kaufmannstochter aus Visé, gegen den erklärten Willen seiner Familie, die eine derartige Liaison für einen angehenden Baron strikt ablehnte und ihn mit Anfeindungen verfolgte, die man dem ärgsten Feind nicht wünschen würde. Doch die Ermahnungen fruchteten nichts, sie machten alles nur noch schlimmer. Mein Vater hatte sein Herz verloren und versuchte nach seiner Enterbung, als Kommandant eines der Forts von Metz seiner kleinen Familie ein Auskommen zu schaffen. Obwohl ich ihn nie wirklich kennen gelernt habe – er starb einige Jahre nach meiner Geburt –, schweb te seine zwiegespaltene Seele immer über uns. Die Familie Neuhoff nahm zwar meine Mutter, meine Schwester und mich in einem Anflug von Reue auf dem Familiengut Pungelscheid bei Werdohl auf, doch sie ließ mich immer spüren, dass etwas Ungeheuerliches in meinen Blutbahnen floss, ein wahrhaft explosives Gemisch, von dem Gefahr ausging. Und meine Mutter, die noch immer eine bezaubernde Frau war, hatte bald einen energischen Verehrer, der sich über mich einen Zugang zu ihrem Herzen erhoffte. So wurde ich zweimal erzogen.
Dieses Muster hat mich nicht verlassen. Ich habe zu keiner Zeit meines Lebens gewusst, wo ich hingehöre. Immer rissen mindestens zwei Wirklichkeiten an mir und forderten eine Entscheidung. Sie hielten meine Seele unter Spannung: Gut und Böse, Hell und Dunkel, Trauer und Freude. Diese Spannung hat mich frei gemacht, mich zu entscheiden, doch was soll ich mit einer solchen Freiheit? Ich verfluche sie. Heute weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich bin: ein König, ein Baron, ein Kaufmann oder einfach ein Idiot, der tatsächlich glaubt, dass es einen Ort der Geborgenheit gibt, an dem der ewige Zwiespalt seiner Seele ein Ende hat? Ich werde es wohl nicht mehr herausfinden – aber er kann es. Wenn er meinen Brief eines Tages erhält. Er wird verstehen, was ich nicht verstehe. Julia, komm, ich will dir erzählen, wie es wirklich war. Schreib es auf, bitte ... Julia!
»Theodor zeigte in allen ritterlichen Übungen Mut und Gewandtheit. Waffen und Kriegswesen waren seine
früheste Beschäftigung, während zugleich die Gewöhnung des Hoflebens den Sinn bedeutender Verhältnisse und geselliger Feinheiten in ihm ausbildete.«
K. Varnhagen von Ense, Biographische Denkmale
5. Dezember
Lord Kilmarnok betrachtete sein grün unterlaufenes Auge im Spiegel und fluchte laut vor sich hin. Die Beschimpfungen verfingen sich in den schweren golddurchwirkten Vorhangstoffen, und für einen Moment schien es dem Adligen, als verdunkelten seine Worte das exquisit eingerichtete Zimmer der Herberge an der Themse. Im Laufe des Tages hatte der Ärger über sein Versagen immer weiter zugenommen und sich zuletzt mit einer beängstigenden Verzweiflung verbunden, die nach und nach Besitz von ihm ergriff. Es war nicht nur der Ärger über den verfehlten Schuss, sondern das Erschrecken darüber, dass er derart die Kontrolle über sich verloren hatte. Eine eigentümliche Scham erfüllte ihn, ohne dass er dieses zermürbende Gefühl hätte näher beschreiben können; eine Demütigung, ein Unbehagen, das sein ganzes Dasein in Frage stellte, als wären die in ihm angestauten Gefühle wie ein Tor zur Seite geschwungen und hätten den Blick auf einen dahinter liegenden Abgrund freigegeben, in dessen Tiefe er zu stürzen drohte. Die Glockenschläge, die von Big Ben herüberzogen, hallten dumpf in seinem Kopf nach, und Lord Kilmarnok stellte sein Whiskyglas so fahrig auf den Tisch, dass sich der Inhalt über den Rand auf den Tisch ergoss.
Am frühen Nachmittag hatte der Adlige seinem Diener, einem untersetzten, dunkelhaarigen Schweizer namens Felix, harsch befoh len, die eben in den Schränken verstauten Kleider wieder einzupacken und eine Überlandkutsche zu bestellen. Er verspürte das dringende Bedürfnis, den Ort seiner entblößenden Niederlage so schnell wie möglich zu verlassen. Doch während er dem unterwürfigen Begleiter beim Zusammenlegen der seidenen Hemden zugesehen hatte, war ihm zunehmend bewusst geworden, dass er nicht vor dem floh, was geschehen war, sondern vor dem, was geschehen könnte. Sein spontaner Vorschlag, diese Frau in Hosen für etwas zu bezahlen, das ihm Schmerzen bereiten würde, kam ihm inzwischen gänzlich absurd vor. Ärgerlich wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn, der immer dann auftrat, wenn er sich verunsichert fühlte. Die Vorstellung, sich erneut der Geschichte seines Feindes stellen zu müssen, die er doch in seiner Fantasie schon Tausende von Malen durchlitten hatte, erschreckte ihn zutiefst. Sie war bei aller Abscheu im Laufe der Jahre zu seiner eigenen Geschichte geworden und vertrug keine Korrekturen.
Schwer ließ sich der Lord in einen der Sessel am Fenster fallen. Er wollte sich gerade zur Beruhigung eine Zigarre anstecken, als er bemerkte, dass sich das von draußen einfallende Licht verändert hatte: Unruhig schwamm es durch die Glasscheiben und brach sich wie Wellen im Spiegel. Die große Brücke vor dem Fenster brannte! Er sprang wieder auf und starrte durch die Vorhänge hindurch in den weiten Feuerwall, der die über den Fluss gezogene Häuserreihe in ein zuckendes Abendrot tauchte. Wie rötliche Geysire schossen die Flammen bis zu den Kaminen empor und züngelten hämisch gen Himmel, als wollten sie das Dunkel aus der hereinbrechenden Nacht lecken. In den Torbögen der Gebäude flogen Funken umher und suchten gierig nach Nahrung. An den Wänden aber wiegten sich im Rhythmus des Flackerns die Schatten der Menschen, die verzweifelt versuchten, den heißen Wellen Einhalt zu gebieten.
Verwirrt beobachtete der Lord, dass einige der Umstehenden heftig Beifall klatschten, als forderten sie eine Zugabe. Einer von ihnen, ein langer, dunkelhaariger Arbeiter mit schwerem Matrosengang, stellte sich den Löschmannschaften in den Weg und trat demonstrativ gegen die schweren Holzeimer der Helfer, bis das Wasser hinausschwappte. Kurz darauf kam es zwischen den verschiedenen Gruppen zu ersten Schlägereien. Wütende Schreie hallten durch die Gassen. Der Adlige wollte sich gerade abwenden, als er unter den zahllosen Schaulustigen, die das Feuer angelockt hatte, auch das kleine Mädchen bemerkte, das ihm am Vormittag den Weg gewiesen hatte. Es stand wohl auf einer Tonne oder etwas Ähn lichem und lugte neugierig über die Köpfe der Versammelten hinweg auf den Brandherd. Dann plötzlich war es verschwunden. Wenig später bemerkte der Beobachter, dass es behände zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurchschlüpfte und versuchte, zum Kai zu kommen. Lord Kilmarnok ergriff seinen Mantel und lief ins Freie.
Als er sich der Themse näherte, spürte der Suchende bei jedem Schritt die zunehmende Hitze im Gesicht. Die Flammen waren inzwischen auf eines der vorderen Häuser übergesprungen und bemalten die weiße Fassade mit schwarzen Zacken. Schwer atmend erreichte er das Ufer in der Nähe eines schräg liegenden Frachtkahns, dessen Heck halb gesunken zu sein schien. Das Mädchen war nirgends zu sehen.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
Felix, der seinem Herrn gefolgt war, ergriff indigniert dessen Mantel und legte ihn ordentlich zusammen. Lord Kilmarnok ließ währenddessen seinen Blick durch die Menge schweifen. Die Zahl der Zuschauer war noch weiter gestiegen, und rund um die brennende Brücke rangen Menschen aller Altersklassen miteinander. Ein geschickter Maler hätte in dem Durcheinander der vom Feuer beleuchteten Kämpfer prachtvolle Motive für ein Höllenszenario entdeckt. Der Adlige betrachtete das Geschehen, ohne es zu begreifen. Laut, um das Schreien der Menschen zu übertönen, sagte er: »Was ist hier eigentlich los?«
Der Diener rümpfte die Nase und nickte mit dem Kopf Richtung Gasthaus: »Die Bürger der Stadt haben die Brücke angezündet, Sir. Zum zweiten Mal in wenigen Wochen.«
Lord Kilmarnok ignorierte die auffordernden Blicke seines Dieners: »Warum? Warum sollte jemand so töricht sein und die Londonbridge anzünden?«
Felix hustete und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, um den Rauch nicht einatmen zu müssen: »Nein, Sir, sie haben nicht die Londonbridge angezündet, sondern die dahinter liegende Holzbrücke, eine vorübergehende Hilfskonstruktion. Habt Ihr auf der Hinfahrt