Die Vier-in-einem-Perspektive. Frigga Haug

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Die Vier-in-einem-Perspektive - Frigga Haug

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nicht zur Entwicklung genutzt, sondern kehrt sich gegen die Arbeitenden in Gestalt von Arbeitslosigkeit. So kommt es zu dem, wörtlich genommen, widersinnigen Aufruf, »Arbeit zu schaffen«; belohnt wird, wer »Arbeitsplätze zu bringen« verspricht. In diesem Versprechen wird über seine Voraussetzungen geschwiegen. So hört es sich an, als ob Einkommen geschaffen würde, wo keines mehr da ist bzw. die betroffenen Menschen in den Dschungeln von Hartz IV verelenden. Von einem Frauenstandpunkt müssen sich solche Versprechen, wie zusätzliche »Arbeit zu schaffen«, von vornherein pervers anhören. Kaum wird man fertig mit all der Überarbeit, die aus der Organisation dessen kommt, was wir zusammenfassend Reproduktionsarbeit nennen, an sich selbst, an Kindern, vollzeitberufstätigen Männern, an Alten, kranken Freunden, Nachbarn usw., bei gleichzeitiger meist Teilzeitarbeit – wo Aufrufe nach eigener Entwicklung, Lernen, Theater, Kultur, Genuss und Wohlleben sich ganz zynisch anhören und an politische Beteiligung, die Einfluss aufs Ganze nimmt, gar nicht zu denken ist.

      Wir kommen zu dem Schluss, dass in alledem, in Überforderung und Unterforderung, in Überarbeit und Arbeitslosigkeit, in Rastlosigkeit und Abwarten eine allgemeine tiefe Ungerechtigkeit herrscht. Sie betrifft die Arbeitsteilung in der Gesellschaft und in ihr Raum und Zeit für Entwicklung ebendieser Gesellschaft und der Menschen in ihr.

      Daher entwerfen wir als perspektivische Leitlinie unserer Politik eine grundlegende Veränderung von Arbeitsteilung. Worauf wir aus sind, das ist eine Verknüpfung jener vier Bereiche menschlicher Tätigkeit:

      – der Arbeit an den notwendigen Lebensmitteln in der Form der Erwerbsarbeit;

      – der Arbeit an sich selbst und an anderen Menschen, was wir als das Menschliche an Menschen zu nennen gewohnt sind und was Marx dazu brachte, mit Charles Fourier zu erkennen, dass »der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation« sei (MEW 2, 208), weil »hier im Verhältnis des Weibes zum Mann, des Schwachen zum Starken, der Sieg der menschlichen Natur über die Brutalität am evidentesten erscheint« (ebd.), weil, wenn auch die Schwächeren in gleichem Maße wachsen können, das wahrhaft Menschliche sich zeigt, wozu auch die Liebe gehört; oder noch einmal in Marx’ Worten (Pariser Manuskripte 1844): Es entscheidet sich am »Verhältnis des Mannes zum Weibe […], inwieweit das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis […] geworden ist, inwieweit er in seinem individuellen Dasein zugleich Gemeinwesen ist« (MEW 40,535).

      – Zum Dritten geht es darum, die schlummernden Anlagen zu entwickeln, sich lebenslang lernend zu entfalten, das Leben nicht bloß als Konsument, sondern tätig zu genießen und damit auch eine andere Vorstellung vom guten Leben entwerfen zu können.

      – Und schließlich geht es übergreifend darum, dass wir auch Zeit brauchen, in die Gestaltung von Gesellschaft einzugreifen, also uns alle politisch zu betätigen.

      Das Erste, die Politik um Arbeit, ihre Qualität, Dauer, Zeit, Entlohnung, kann auf Erfahrung bauen in den zur Arbeit gehörenden Bewegungen.

      Das Zweite, die Frage der Arbeit am Nachwuchs, aber auch an allen anderen und an sich selbst, gemeinhin Reproduktionsarbeit genannt, bündelt Patriarchatskritik, indem sie diesen Raum menschlicher Entfaltung für alle Geschlechter erstreitet.

      Das Dritte, die Zeit, die für eigene Entwicklung gebraucht wird, stößt an die Politik des Zeitregimes in unserer Lebensweise, in die wir uns daher als Viertes einmischen und das Stellvertretermodell in der Politik in seine Schranken weisen müssen.

      So sieht der Umriss eines von Frauen formulierbaren umfassenderen Begriffs von Gerechtigkeit aus, der seinen Ausgang nimmt bei der Arbeitsteilung und der damit verbundenen Zeitverausgabung. Gehen wir davon aus, dass jeder Mensch etwa 16 Stunden am Tag in die so umfassend gedachte gesellschaftliche Gesamtarbeit einbringen kann, so wird sogleich offenbar, dass das Gerede von einer Krise, weil uns die Arbeit ausgehe, von einem äußerst restriktiven Arbeitsbegriff ausgeht und daran festhalten will, koste es, was es wolle. Vom Standpunkt des gesamten Lebens und seiner menschlichen Führung sieht die Sache radikal anders aus:

      In der Politik um Arbeit wird Leitlinie die notwendige Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit für alle auf ein Viertel der aktiv zu nutzenden Zeit, also auf vier Stunden – perspektivisch erledigen sich auf diese Weise Probleme von Arbeitslosigkeit (wir haben dann weniger Menschen als Arbeitsplätze) mitsamt Prekariat und Leiharbeit – so gesprochen gehen alle einer Teilzeitarbeit nach, bzw. der Begriff hat aufgehört, etwas sinnvoll zu bezeichnen, und wir können uns auf die Qualität der Arbeit konzentrieren, verlangen, dass sie den menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten entspricht.

      Auch die Politik ums Grundeinkommen gerät in einen lebensbejahenderen Zusammenhang. Da alle ein Recht auf einen vierstündigen Erwerbsarbeitsplatz haben und dieser dann ja auch verfügbar ist, kann es nicht mehr die Frage sein, ob das Grundeinkommen bedingungslos ist. Es versteht sich vielmehr von selbst, dass alle Einzelnen über ein ausreichendes Einkommen zum Leben verfügen und dass sie ebenso in jedem der vier Bereiche sich betätigen: in der Erwerbsarbeit, in der Sorgearbeit um sich und andere, in der Entfaltung der in ihnen schlummernden Fähigkeiten, schließlich im politisch-gesellschaftlichen Engagement. Probeweis kann man dies auch so ausdrücken, dass jeder Mensch in die Lage versetzt wird, sein Leben so einzurichten, dass er oder sie je vier Stunden in jedem dieser Bereiche pro Tag verbringt. Das ist nicht dogmatisch zu verstehen, als ob man mit der Stechuhr in der Hand von Bereich zu Bereich gehen müsste, in keinem mehr genügend zu Hause. Vielmehr wird man, sobald man anfängt, die eigne Lebensführung in diesen Dimensionen zu fassen, schnell bemerken, dass die Grenzen nicht fest sind, die Bereiche einander durchdringen und innerlich zusammenhängen. Die Aufteilung in vier mal vier Stunden ist so ein Modell, das eben wie ein Kompass Strategien der Veränderung entscheidend orientieren kann. Dabei ist im Übrigen die im Märchen zu Beginn mehrfach angerufene Scham aufgehoben in der Schuldigkeit gegenüber sich selbst und anderen, sich tatsächlich so vielfältig als Mensch zu betätigen.

      Für die Reproduktions-Familienarbeit bedeutet dies zuallererst eine Verallgemeinerung. So wie niemand aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sein kann, so auch nicht aus der Reproduktionsarbeit – alle Menschen, Männer wie Frauen, können und sollen hier ihre sozialen menschlichen Fähigkeiten entwickeln. Das erledigt den Streit ums Erziehungsgeld, ohne die Qualität der Arbeit, die hier geleistet wird, abzuwerten; ja im Gegenteil, jetzt erst, in der Verallgemeinerung statt in der alleinigen Zuweisung auf Frauen und Mütter, kann der allgemeine Anspruch verwirklicht werden, dass diese Arbeit qualifizierte Arbeit ist und also erlernt werden muss wie andere Arbeit auch. – Die vielen Meldungen über misshandelte und verwahrloste Kinder legen hier ein beredtes Zeugnis ab.

      In einem Gespräch mit Vätern, die an der allgemeinen Sorge über die Entwicklung ihrer Söhne zwischen Verweigerung, Drogen, Gewalt und Verzweiflung teilhatten, hörte ich mit Interesse, dass der Zivildienst in einer Intensivstation eines Krankenhauses bei dem einen, in der Altenpflege bei dem anderen einen Humanisierungsschub bewirkt hatte: Statt Zynismus schien Sinn im Leben auf. Warum nicht Zivildienst für alle Menschen ins gesellschaftliche Bildungsprogramm aufnehmen?

      In der Frage individueller Entwicklung geht es um die Möglichkeit, von Anfang an, unabhängig von Geschlecht, Klasse und Hautfarbe, die den Menschen eigenen vielfältigen Möglichkeiten zu ergreifen – ein Prozess, der lebenslang anhält. Oder anders: Es sollte nicht mehr hingenommen werden, dass die einen so und so viele Sprachen sprechen, musizieren, dichten, malen und reisend wie Goethe sich weiter vervollkommnen, während andere froh sein müssen, wenn sie überhaupt lesen und schreiben können.

      Unser Politikanspruch läuft darauf hinaus, dass Gesellschaft zu gestalten keine arbeitsteilige Spezialität sein soll, wobei die einen die Politik machen, während die anderen, und das ist die übergroße Mehrzahl, deren Folgen ausbaden. Vorbildlich können hier für uns die Frauen der Zapatistas sein, die als die Ärmsten der Armen wie selbstverständlich darauf bestanden, dass nicht, wie eine liberale UNO-Politik vorschlug, der umstandslose Schutz der Indigenakultur eine Forderung

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