Die Vier-in-einem-Perspektive. Frigga Haug
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Marx und die Arbeit
Nicht nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Unternehmerverbände haben Arbeit zum Feld ideologischer Bedeutungskämpfe erkoren. Der »Wertwandel« um Arbeit hat auch die Sozialwissenschaften, allen voran die Soziologie erschüttert. Die Bedeutung, die Arbeit für den Einzelnen hat, soll gesellschaftlich ermäßigt werden. Das erlaubt mehr psychische Stabilität bei Arbeitslosigkeit, weniger Marginalisierung jener, die keine Arbeit haben, wenn diese ohnehin nicht mehr so zentral ist wie etwa eine Familie. Das Umfrageinstitut INFAS versorgt die Öffentlichkeit regelmäßig mit den neuesten Nachrichten über die Abnahme des Stellenwerts, den Arbeit für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder – insbesondere die jüngeren – hat. Die Gesellschaft wandelt sich auf kluge Weise: In dem Maße, wie industriell weniger Arbeitskräfte gebraucht werden, da die Produktivitätssteigerung nicht durch Wachstum zugunsten gleichbleibenden Arbeitseinsatzes in den gleichen Industriezweigen ausgeglichen wird, in dem Maße verlieren auch die Arbeitenden den Wunsch nach Arbeit. Sie streifen ihre protestantische Arbeitshaut ab und entwickeln zugleich Neigungen, die nicht notwendig das Arbeitslosengeld überschreiten: z. B. ein Bedürfnis nach Kommunikation, nach Freundschaft und Nähe, Nachbarschaftlichkeit und ehrenamtlichen Tätigkeiten in der Altenpflege, der Behindertenfürsorge. In »nicht-entfremdeter« Gestalt – in Freizeit und Hobby oder in alternativen Projekten – entfalten sie genau die Hoffnungen, die am Anfang meiner Arbeitsdiskussion standen: »Selbsttätigkeit«, »freie Tätigkeit«, »Sinnengenuss«, »Aufhebung der Verkehrung von Mittel und Zweck«. Folgen wir zum Beispiel Dahrendorfs »Ende der Arbeitsgesellschaft«, so sind die Menschen heute in den Genuss der Aufhebung der entfremdeten Arbeit (also in den Bereich des Kommunismus) gekommen, ohne irgendeine gesellschaftliche Revolution gemacht zu haben.
Auch die »Verwandlung der Arbeit in Selbstbetätigung und die Verwandlung des bisherigen bedingten Verkehrs in den Verkehr der Individuen als solcher« (MEW 3, 68) hatte sich Marx nur durch eine Revolution herbeiführbar gedacht; genau diese Dimensionen aber sind es auch, die in der Soziologie – etwa von Habermas – an die Stelle des Arbeitsbegriffs treten sollen: Selbsttätigkeit und kommunikatives Handeln. Habermas spricht von der »Erschöpfung utopischer Energien« und meint die Projekte, die die Emanzipation der Arbeit von Fremdbestimmung erstreiten wollten: vornehmlich Marx und die Arbeiterbewegung. »Das politische Anregungspotenzial der arbeitsgesellschaftlichen Utopie« sei erschöpft; Widerstandspotenziale sammelten sich »im Sog einer fortschreitenden bürokratischen Erosion der aus naturwüchsigen Zusammenhängen freigesetzten, kommunikativ strukturierten Lebenswelten« an (Habermas 1985, 141 ff).
Habermas empfiehlt, die Hoffnung auf revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft durch die Arbeiterbewegung aufzugeben. Ebenso sei nicht auf den Wohlfahrtsstaat mit Vollbeschäftigungspolitik als Befriedung der Klassen zu setzen. Widerstand käme aus den neuen sozialen Bewegungen; demnach sei die Lebensweise (nicht die Arbeitsweise) Ferment für Umwälzungen. Es geht ihm um die Ersetzung der im marxschen Arbeitskonzept angelegten Revolutionstheorie. Aber reduzierte denn Marx sein Befreiungsprojekt auf die Aufhebung der entfremdeten Arbeit und die Emanzipation der (vermutlich männlichen) Arbeiter? Oder anders: Wie wäre denn mit Marx über die neuen sozialen Bewegungen zu denken und über die Befreiung der Lebensweise?
Holzkamp bezieht sich ebenso auf ein Handlungs- (und Handlungsfähigkeits-) Konzept. Für ihn steht allerdings die Zentralität einer auf die Arbeiterbewegung zählenden Revolutions- oder auch Gesellschaftsveränderungstheorie außer Frage. »Bewusstes Handeln auf klassenspezifische Lebensbedingungen« ist ein tragendes Element seiner Theoriebildung. Wie aber kommen bei ihm Selbsttätigkeit, Genuss und Selbstverwirklichung, kurz, wie kommt die Hoffnung vor, die Habermas als »utopische Stärke« bezeichnete?
Verunsichert durch die vielen bis hierher aufgeworfenen Fragen, scheint es mir an der Zeit, Marx noch einmal neu zu lesen. Das Gelände ist ein Kampfplatz. Verschiedene Richtungen beziehen sich auf Marx und sprechen dabei höchst gegensätzlich über seinen Arbeitsbegriff. Sie schlagen aufeinander ein mit Behauptungen, Marx wäre der Theoretiker der Abschaffung der Arbeit oder umgekehrt, er habe ihre Ewigkeit begründen wollen. Arbeit stehe bei ihm im Zentrum von individueller und von Menschheitsentwicklung. Sie begründe Gesellschaftstheorie recht eigentlich und sie sei ein bloßes Synonym für Herrschaft und Sklaverei. Die so sprechen, haben ihren Marx gelesen. Wie ausgerupfte Federn hängen Marxzitate als schmückendes Belegwerk in ihren Texten. Legt man die Beweisstücke nebeneinander, so kommt man unweigerlich zu dem Resultat: Marx hat seine Auffassungen geändert wie eine Wetterfahne die Richtung. Er hat alles zu Arbeit gesagt, als wäre sie nichts Ernstzunehmendes. Wie nun mit Marx verfahren, wenn wir die dogmatische Lesweise vermeiden wollen, die aus einem Zitat eine Theorie von ewiger Beständigkeit entwickelt, um in kirchlicher Manier dieselbe als wahr und einzig richtig zu verkünden? Verfahren wir nicht ebenso rechthaberisch, wenn wir die unterschiedlichen Verwendungen in einen Zusammenhang bringen wollen? Oder können wir uns damit zufriedengeben, Marx sei eben widersprüchlich; er wechsle die Paradigmen, wie dies heute modern ist, oder er habe nur in seinen Frühschriften Wahres verkündet und sei einer, der mit dem Alter nicht klüger wurde, sondern dümmer?
In der philosophischen Tradition und in der neueren Nationalökonomie (Smith, Ricardo) fand Marx einen Arbeitsbegriff in einem bedeutungsvoll umstrittenen Feld: Arbeit war Tätigkeit der Armen; sie war Mühsal und Plage, erschöpfte die Lebensgeister, ja sie war für viele an die Stelle des Lebens getreten. Aber Arbeit war auch Quelle des Reichtums und aller Werte.
»[…] es ist das Interesse aller reichen Nationen, dass der größte Teil der Armen nie untätig sei und sie dennoch stets verausgaben, was sie einnehmen […] Diejenigen, die ihr Leben durch die tägliche Arbeit gewinnen, haben nichts, was sie anstachelt, dienstlich zu sein außer ihren Bedürfnissen, welche es Klugheit ist zu lindern, aber Narrheit wäre zu kurieren […] folgt, dass in einer freien Nation […] der sicherste Reichtum aus einer Menge arbeitsamer Armen besteht« (B. de Mandeville, Die Bienenfabel, 173, 269; zit. n. MEW 23, 643).
Arbeit als Bindeglied zwischen Armut und Reichtum, als widersprüchliche Voraussetzung für beides – zunächst arbeitet Marx die Position von Arbeit in diesem provozierenden Gegensatz als Dimension von Herrschaft aus. In der politischen Form der Arbeiteremanzipation sei die allgemein menschliche Emanzipation deshalb enthalten, weil
»die ganze menschliche Knechtschaft in dem Verhältnis des Arbeiters zur Produktion involviert ist, und alle Knechtschaftsverhältnisse nur Modifikationen und Konsequenzen dieses Verhältnisses sind« (MEW EB 1, 521).
In seinen frühen Schriften finden wir eine Reihe von Sätzen, die im Sprachmaterial der Zeit Arbeit selbst als Entfremdung fassen.
»Denn erstens erscheint dem Menschen die Arbeit, die Lebenstätigkeit, das produktive Leben selbst nur als ein Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses, des Bedürfnisses der Erhaltung der physischen Existenz. Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben.« (MEW EB 1, 516) Alle »menschliche Tätigkeit [war] bisher Arbeit, also Industrie, sich selbst entfremdete Tätigkeit« (MEW EB 1, 542 f).
Diese Auffassung, dass Arbeit selber die Form ist, in der Herrschaft sich äußert, und keineswegs etwa »erstes Lebensbedürfnis«, findet ihren konsequenten Ausdruck in der Schlussfolgerung, es sei die Arbeit, die abgeschafft gehöre:
»Es ist eines der größten Missverständnisse, von freier, gesellschaftlicher, menschlicher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum zu sprechen. Die ›Arbeit‹ ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte