Die Vier-in-einem-Perspektive. Frigga Haug
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»Schließlich erhalten wir noch folgende Resultate aus den entwickelten Geschichtsauffassungen: […] 3. dass in allen bisherigen Revolutionen die Art der Tätigkeit stets unangetastet blieb und es sich nur um eine andere Distribution dieser Tätigkeit, um eine neue Verteilung der Arbeit an andere Personen handelte, während die kommunistische Revolution sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit richtet, die Arbeit beseitigt« (MEW 3, 69 f).
Ich nehme nicht an, dass Marx hier tatsächlich daran dachte, Arbeit gefasst als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur aufhebbar zu denken, dass er ewige Muße versprach oder die Abschaffung der Industrie mit dem Überleben der Menschheit für vereinbar hielt. Arbeit als Formbegriff zu denken zwingt uns vielmehr dazu, zu rekonstruieren, was eigentlich in die Form der Arbeit verkehrt wurde, welche »Substanz« also hier zu befreien ist. In der entfremdeten Form finden sich: freie Lebensäußerung; Genuss des Lebens; die Betätigung des menschlichen Gemeinwesens; Selbstbetätigung; Bewusstsein, ein menschliches Bedürfnis befriedigt zu haben; in der Liebe sich bestätigt wissen (vgl. MEW EB 1, 462 f); die Entwicklung der Individuen zu totalen Individuen; der Verkehr der Individuen als solcher (vgl. MEW 3, 68); bewusste, freie Lebenstätigkeit als Gattungswesen (vgl. MEW EB 1, 516) u. v. m. Die Betonung liegt auf der »freien Tätigkeit« oder »Selbsttätigkeit« – diese ist immer im Verhältnis zur Gattung gedacht, als gattungsspezifisches Merkmal. Die Menschen sind als Gattungswesen produktiv füreinander tätig, dies bestimmt ihren Verkehr untereinander, das Gemeinwesen und die Entwicklung der Individuen. Diese Selbsttätigkeit ist Genuss. Das Leben selbst ist lustvolle Produktion. Von solchen marxschen Sätzen ausgehend könnten wir »Selbsttätigkeit als erstes Lebensbedürfnis« formulieren, das Gemeinwesen als produktiven Zusammenhang denken und Entwicklung der Individuen durch freie Lebenstätigkeit – aber wir kämen niemals auf die sozialwissenschaftlich moderne Abwehr: nicht Arbeit dürfe fürderhin im Zentrum von Gesellschaftstheorie stehen (wie angeblich bei Marx), sondern Kommunikation oder Lebensweise (Lebenswelt). Es ist ganz offensichtlich, dass Marx diesen Unterschied zwischen Arbeits- und Lebenswelt nicht machte bzw. dass es ihm um die Revolutionierung dessen ging, was heute »Lebensweise« genannt wird. Diese begriff er als den gemeinschaftlichen genussvollen, tätigen Zusammenhang der Individuen eines Gemeinwesens. Inbegriffen sind die Verkehrsformen, die Liebe, das Leben selbst. Leben ist ihm allerdings in jedem Fall tätiges Leben. Die Lebensweise wird verkehrt durch die Produktionsverhältnisse, die Art und Weise, wie die Menschen ihr materielles Leben produzieren. Vereinfacht gesprochen tun sie dies im Laufe der Geschichte zunächst so, dass die einen der Selbstbetätigung frönen, während die anderen das materielle Leben erzeugen (vgl. auch MEW 3, 67 f).
Selbstbetätigung als Perspektive der Befreiung bezieht sich auf die Erzeugung des materiellen Lebens – dieser Bezug ist notwendig, um Leben ohne Herrschaft überhaupt denken zu können. Die Erzeugung des materiellen Lebens durchläuft so verschiedene Entwicklungsstufen – eine Form ist die Arbeit. Sie ist die unmittelbarste Verkehrung, »negative Form der Selbstbetätigung« (vgl. MEW 3, 67.). Das Leben selbst gerät mit sich in Entzweiung. In dieser Negation entfaltet Marx analytische Bestimmungen, die auch im späteren Kapital erhalten bleiben:
»Also durch die entfremdete entäußerte Arbeit erzeugt der Arbeiter das Verhältnis eines der Arbeit fremden und außer ihr stehenden Menschen zu dieser Arbeit. Das Verhältnis des Arbeiters zur Arbeit erzeugt das Verhältnis des Kapitalisten zu derselben, oder wie man sonst den Arbeitsherrn nennen will. Das Privateigentum ist also das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhältnisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst.« (MEW EB 1, 519 f.)
Und hier ist auch der spätere Sprachgebrauch schon vorfindbar. Nicht Arbeit selbst ist in den späteren Schriften Formbegriff, an diese Stelle tritt die »entfremdete Arbeit«. Zur Arbeit dagegen sagt Marx:
»Als nützliche Arbeit ist die Arbeit daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also des menschlichen Lebens zu vermitteln.« (MEW 23, 57; fast gleichlautend schon MEW 13, 23 f)
Arbeit ist in entfremdeter Gestalt ein Doppeltes, Bildnerin von Gebrauchswerten, zweckmäßig, und in dieser Weise unabhängig von den Gesellschaftsformationen und Tauschwerte produzierend oder setzend, Reichtum schaffend; solches ist sie nur unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen. Die damit zusammenhängenden Verkehrungen/Entfremdungen werden im Kapital ausführlich analysiert. Die Erkenntnis vom Doppelcharakter der Arbeit ist elementar für die Analyse des Kapitalismus als warenproduzierender Gesellschaft. Aber die Erzeugung des materiellen Lebens als Selbsttätigkeit – dies bleibt die Perspektive. Sie umfasst die Herrschaftslosigkeit in der Produktionsweise und damit die Beseitigung des Privateigentums (der Tauschwertakkumulation) als gesellschaftliches Regelungsprinzip und das Begreifen der Gesetze der Natur, um Katastrophen entgegenzuwirken.
Die Perspektive der »freien Tätigkeit« wird als Prozess gefasst: es geht um das Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit. Das Moment der Notwendigkeit in der materiellen Produktion soll so immer weiter zurückgedrängt werden zugunsten des freiheitlichen Moments von Selbsttätigkeit. Im Reich der Notwendigkeit wird Arbeit ein Verteilungsproblem – alle sollen Arbeit aus Not zu gleichen Teilen bewältigen; im Reich der Freiheit geht es um eine andere Art von Tätigkeit, in der die herkömmliche Arbeitsteilung, insbesondere die von Kopf- und Handarbeit, nicht gilt. Der Weg geht über die Entwicklung der Produktivkräfte, die den Notwendigkeitscharakter bei der Erzeugung des materiellen Lebens ermäßigen; und er geht über die Entzweiung der menschlichen Arbeit, ihre Entfremdung. Die entfremdete Arbeit muss gewaltsam aufgehoben werden, dadurch dass der Mensch sich die von ihm geschaffenen Produktivkräfte schließlich aneignet, dies im umfassenden Sinn. Umgewälzt werden müssen die gesamten Produktionsverhältnisse, die die Verkehrung der menschlichen Gattung so weit trieben, dass alle Entwicklung, aller Reichtum, Kultur, die gegenständlichen Arbeitsbedingungen sich gegen die Arbeitenden versachlichten und zur Macht über sie wurden. Dieser Widerspruch kann nur durch einen Bruch in eine neue Form gebracht werden. In der Kritik des Gothaer Programms skizziert Marx die Stufe der genossenschaftlichen (gesellschaftlicher Besitz der Produktionsmittel) Gesellschaft, die – eben weil sie aus der kapitalistischen hervorgeht – die Muttermale dieser Gesellschaft trägt: »in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig«. Dann entwirft er als höhere »kommunistische Gesellschaft« ein Gemeinwesen, welches die Verkehrungen der Arbeit überwunden hat, und erst in diesem Zusammenhang fällt die Äußerung von der »Arbeit als erstem Lebensbedürfnis«.
»[…] nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (MEW 19, 21)
Diese Äußerung hat zu vielerlei Einseitigkeiten beigetragen. Neben der Vorstellung, Individuen, denen eine »arbeitsscheue« Haltung attestiert wird, könnten unter Berufung auf Marx zu solchen, denen »Arbeit zum ersten Lebensbedürfnis« wird, erzogen werden, war es auch gerade der Schlussaufruf »jedem nach seinen Bedürfnissen«, der Hoffnung und Befürchtung hervorbrachte, Marx könne eine Gesellschaft herbeigesehnt haben, in der die Bedürfnisse, die durch Kapitalismus und Überflussproduktion auf der einen Seite, Armut auf der anderen formiert sind, zum Maßstab gesellschaftlicher Regelung genommen würden. Dabei ist der Kontext eindeutig: Wenn es den Menschen gelingt, sich aus materieller Not und Herrschaft zu befreien, dann ist die Erzeugung des materiellen Lebens ihnen produktiver Genuss und Entfaltung ihrer Fähigkeiten. Dieses Bedürfnis werden sie leben können und insofern ihr Menschsein verwirklichen. Das schließt die Aufhebung jener Arbeitsteilungen ein, die die Entzweiung der menschlichen Arbeit als Grundlage von Gesellschaftsformationen hervorbrachten: die Teilung in Hand- und Kopfarbeit; in