Lichtschacht. Anne Goldmann

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Lichtschacht - Anne Goldmann

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dann nach rechts wandte und schließlich zurücklehnte. Ihre Bewegungen wirkten verlangsamt. Die Frau am Rand hielt ihr Glas nachlässig mit dem Kelch nach unten, der Mann starrte auf den flammend roten Streifen am Horizont, der rasch schmaler wurde und schließlich verschwand.

      Lena spähte angestrengt hinüber. Die Dämmerung schluckte die Farben, die ersten Straßenlampen gingen an. Die drei machten keine Anstalten, sich zu erheben. Zurückzuklettern. Sie gähnte und streckte sich. Ihr war kalt. Ein Windstoß fuhr ihr unter das Kleid und wehte ihr die Haare ins Gesicht.

      Als sie wieder hinsah, war der Platz in der Mitte leer.

      Sie schrie auf und schlug die Hand vor den Mund. Scannte das Dach: Nichts! Keine Spur von der zweiten Frau! Die beiden anderen saßen reglos.

      Wieder kam Wind auf. Er wirbelte die langen glatten Haare der Frau durcheinander. Erst nach einer Weile neigte sie den Kopf ein wenig, fasste sie zusammen und schlang sie zu einem Knoten. Der Mann wandte sich ihr zu. Er rückte näher und zog sie zu sich hin. Ihr Kopf sank auf seine Schulter. Er strich ihr über das Haar, das sich wieder löste und sie wie ein heller Schleier umfloss. Eine ganze Weile saßen sie so, wie festgefroren, während Lena sich am Türrahmen festklammerte und nach Luft rang.

      Nun hob die Frau langsam den Kopf. Sie schaute über die Dächer: nach rechts, wo am Horizont die Weinberge den Blick begrenzten. Über die Stadt. Der Mann bewegte sich nicht. Die Frau wandte sich um und deutete auf Lena.

      Draußen war es längst dunkel. Das monotone Ticken der Küchenuhr tropfte in die Stille. Lena kauerte auf dem Boden. Sie war benommen, wie leicht betrunken. Ihr Herz pochte beängstigend schnell. Sie versuchte sich zu beruhigen: Das ist normal. Kann vorkommen, wenn du kiffst. Das letzte Mal lag schon Jahre zurück.

      Die Tür war einen Spalt weit offen geblieben und schlug immer wieder gegen ihre linke Schulter. Sie hatte die Arme um sich gelegt. Kälte kroch über ihre Haut. Wieder raffte sie die grob gestrickte Weste über der Brust zusammen. Langsam, wie in Trance, erhob sie sich und schloss die Tür. Sie stellte sich ans Fenster und starrte angestrengt ins Dunkel über den Dächern. Unmöglich, etwas auszumachen. In einer der Wohnungen im Nebenhaus brannte ein schwaches Licht, das nach einer Weile erlosch.

      Sie musste die Polizei anrufen! Bekifft? Und dann? Ich habe einen Mord beobachtet! Hatte sie gesehen, wie jemand die Frau in die Tiefe gestoßen hatte? Eben! Sie konnte übers Dach zurückgeklettert sein. So schnell? Wenn man geraucht hatte, veränderte sich das Zeitgefühl. Ja, das war es wohl. Die eine war gegangen. Zurück in eine der Wohnungen, die von den Häusern davor verdeckt wurden. Das Pärchen war noch eine Weile auf dem Dach geblieben. Nun saßen sie irgendwo, ein, zwei Stockwerke tiefer, beduselt wie sie, tranken vielleicht noch ein Glas oder aßen eine Kleinigkeit, bevor einer von ihnen – oder ein Pärchen – nach Hause gehen würde. Vielleicht waren sie ja eine Familie? Vater. Mutter. Tochter.

      Lena dachte an die Sonnenfinsternis vor vielen Jahren. In einer anderen Stadt. Sie war neun. Ihr Vater, damals schon über vierzig, und Sanja, kaum halb so alt wie er, waren mit ihr aufs Dach geklettert. Sie hatten mit Sekt angestoßen. Der Vater hatte Sanja auf eine Weise geküsst, die ihr peinlich war. Als die Vögel verstummten und die Stadt unter ihnen, saß sie ein gutes Stück von den beiden entfernt an einen Schornstein gelehnt und fühlte sich ausgeschlossen. Wie eine Welle rollte das Grau heran und über sie hinweg. Es war totenstill.

      ||

      Er hatte einen Schrei erwartet. Aber da waren nur ihre weit aufgerissenen Augen. Sein eigener Atem. Ein dumpfer Aufprall. Und dann Stille. Ausatmen. Verkehrslärm, an- und abschwellend wie die Brandung. Einatmen. Hin und wieder ein Hupen. Weiteratmen. Ein Folgetonhorn. Von unten, aus dem Hof, kein Laut. Wenn man fünf Stock tiefer mit dem Kopf voran auf den Betonboden knallt, ist man tot.

      »Es war ein Unfall«, flüsterte sie und sah ihn beschwörend an. Fuchtelte mit ihren Händen vor seinem Gesicht herum. »Wir müssen die Polizei rufen. Die Rettung.« Er hörte ihre Zähne aufeinanderschlagen.

      »Komm her«, sagte er leise. Vorsichtig rückte sie Stück für Stück näher. Ihr ganzer Körper bebte. Eiskalte Finger. »Kannst du aufstehen?«

      Sie nickte. Ihr Blick flackerte. Sie atmete hastig, hechelnd. Ihre rechte Hand umklammerte immer noch das Glas.

      Er nahm es ihr ab und warf es in die Tiefe. »Bind dir die Haare zusammen.« Sie schaffte es nicht. »Komm.« Er fasste sie an der Hand und half ihr auf. Sie krallte sich in seinen Unterarm. »Halt dich an den Ziegeln fest«, wies er sie an. »Genau. Auf allen vieren. Noch ein Stück. Gut. Schau, da ist schon die Leiter.« Wenn sie jetzt strauchelte, ausrutschte … Es wurde schon dunkel … Nein, er würde sie abfangen!

      Über die Terrasse gelangten sie in die Wohnung. Er machte kein Licht. »Setz dich!«

      Sie sank in einen Fauteuil, der mitten im Raum stand. »Wir müssen die Rettung … « Sie stand unter Schock. Ihre Knie schlackerten.

      »Pscht«, machte er. Trat hinter sie, legte seine Arme um sie und zog sie an sich. Nach kurzem Widerstreben gab sie nach. Nun weinte sie leise. Er streichelte mechanisch ihre Oberarme und wartete.

      »Denkst du, sie ist – tot?«

      »Ja. Es sind fünf Stockwerke.« Wir haben keine Eile, dachte er. Ich kann in Ruhe überlegen.

      Sie schluchzte auf.

      Er ging in die Küche, die zur Straße hin lag, und machte Licht. Nahm ein Glas und ließ es mit Wasser volllaufen. Trank, füllte es wieder auf und brachte es ihr. Während sie hastig schluckte, es mit beiden Händen hielt wie ein Kind, ging er ins Nebenzimmer, zum Schreibtisch der Toten, und nahm ihr Handy und den Buchkalender an sich. Schob den Schein zwischen die Seiten und klappte ihn zu.

      Sie saß noch genauso da, wie er sie verlassen hatte. Umklammerte ihr Wasserglas. Die Knöchel traten weiß hervor. Er löste ihre Finger und brachte es in die Küche. Als er sich umwandte, stand sie in der Tür. Er schaltete den Geschirrspüler ein.

      »Wir reden später«, sagte er. »Zu Hause. Komm.« Er führte sie ins Badezimmer, wo sie sich das Gesicht wusch und vor dem Spiegel die Haare kämmte. Sie sah verheult aus. Er müde.

      Er löschte das Licht. Schloss sorgfältig ab und zog sie an sich, als im Stiegenhaus das Licht aufflammte. »Guten Abend.«

      »Guten Abend.«

      Es dauerte lange, bis er sie davon überzeugt hatte, dass es besser war, nichts zu überstürzen.

      ||

      Lena blinzelte und drehte sich zur Seite. Sie zog das rechte Bein an den Körper, seufzte wohlig und umarmte ein bauschiges weißes Kissen. Die zerknitterte Decke lag quer über dem Bett und bedeckte kaum ihren Hintern, die dünnen Träger ihres Nachthemds waren über die Schultern gerutscht. Ein leichter Wind bewegte die Gardinen, Straßengeräusche drangen ins Zimmer. Sie fasste nach der Decke und zog sie sich über die Brust. Langsam öffnete sie die Augen. Ihr Blick fiel auf einen Wäscheständer, auf dem ordentlich aufgereiht fremde Kleidungsstücke, drei ihrer eigenen Kleider und ihre Unterwäsche hingen. Einen weißen, spiegelnden Schrank dahinter. Der Teppich neben dem Bett sah weich und teuer aus. Langsam verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. So schön hatte sie noch nie gewohnt.

      Sie rollte sich auf den Rücken, streckte sich wie eine Katze und setzte sich schwungvoll auf. Beugte sich zur Seite und tippte auf den Wecker. Kurz vor halb sieben. Es klappte immer, dass sie wach wurde, bevor er lospiepste. Sie hob die Gardinen an, raffte sie zur Seite und öffnete das Fenster ganz.

      In

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