Lichtschacht. Anne Goldmann
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Sie atmete tief durch und wandte sich dem Verkaufstisch zu. Hingebungsvoll polierte sie die Tischfläche, die Fronten. Sah auf die Uhr und holte sich ein Glas Wasser. Es war schon fast elf. Wo bloß die Kunden blieben? Gestern zehn, am Tag davor gezählte acht – davon konnte doch kein Mensch leben! Wenn sie nicht bald mehr Umsatz machte, war sie ihren Job bestimmt schnell wieder los. Ihr Chef sah nicht wie ein Wohltäter aus.
Er hätte dich nicht eingestellt, wenn es sich für ihn nicht rentiert, versuchte sie sich zu beruhigen und nahm sich das Schaufenster vor. Die filigranen weißen Schalen, wie aus Tortenspitze geformt, hoben sich kaum vom Hintergrund ab. Sie nahm sie vorsichtig hoch und stellte sie zur Seite. Man musste sie mit kräftigen Farben ergänzen, sie aufleuchten lassen. Ob er es merken würde, wenn sie das eine oder andere neu arrangierte? Sie zögerte kurz, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen.
»Du hast echt einen Putzfimmel«, hatte Elias ihr mehr als einmal genervt vorgeworfen. Ihre Beziehung war letztendlich aber an seiner Unzuverlässigkeit gescheitert.
Lena richtete sich auf und sah nach draußen. Vor dem Shirtshop gegenüber probierte ein blasses Mädchen unter den kritischen Blicken ihrer Freundin mehrere Kleidungsstücke aus der Wühlkiste gleich auf der Straße an. Ein Herr mit markantem Profil verhielt den Schritt und schaute interessiert zu, wie beim Ausziehen eines Tops ihr dünner Pulli mit hochrutschte und sie mit nacktem Bauch dastand, bis die Freundin ihr lachend zu Hilfe kam. Lena zog die Brauen hoch und wandte sich ab.
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Er rief sie am späten Nachmittag an. Sie meldete sich nach dem ersten Läuten. Sie verabredeten sich für den Abend beim neuen Italiener in der Nähe ihres Arbeitsplatzes.
Er war etwas zu spät dran, sie erwartete ihn bereits. Kein Lächeln, als er auf sie zueilte. Er beugte sich zu ihr hinab. Sie hielt ihm ihre Wange hin. Sie verfehlten sich, ihre Jochbeine schlugen gegeneinander.
»Entschuldige«, murmelte sie und rieb sich mit der Hand die schmerzende Stelle.
Er setzte sich und nahm ihr die Karte aus der Hand. »Was trinkst du?« Sie zuckte die Schultern. Er bestellte eine Flasche ihres Lieblingsweins. Und Pasta. Sie rollte währenddessen ihre Stoffserviette zusammen und wieder auseinander, zusammen und wieder auseinander. Es machte ihn nervös. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. Sie trug immer noch den Ring.
»Ich muss die ganze Zeit daran denken«, flüsterte sie. »Dass sie da liegt. Seit gestern Abend. Die ganze Nacht lang. Und einen ganzen Tag. Im engen Lichtschacht. Mit zerschmetterten Knochen. Vielleicht, vielleicht … lebt sie ja noch –« Ihre Stimme versagte. »Man kann sie doch nicht so liegen lassen!«, krächzte sie. »Wir müssen etwas tun.« Sie entzog ihm ihre Hand und massierte sich den Ringfinger.
»Ich hab dir doch gesagt: Einen Sturz aus dieser Höhe überlebt niemand.«
»Sie kann doch da nicht liegen bleiben. Der Gedanke macht mich verrückt. Da … ist sicher alles voller Taubenscheiße«, sie wurde lauter, »da sind bestimmt Ratten!«
»Bitte!«, unterbrach er sie energisch.
»Ich verstehe nicht, dass wir einfach gegangen sind.« Sie sah auf. Ihr Blick flackerte. »Du hast doch die Schlüssel. Es gibt sicher einen Zugang zum Lichthof. Wir holen sie da raus. Rufen die Polizei, was weiß ich … Wir können doch nicht einfach … «
Er schnellte vor und packte sie am Arm. »Halt den Mund, verdammt«, zischte er. »Das ist kein Grund, hysterisch zu werden. Willst du, dass jemand Verdacht schöpft? Ja? Ja? Willst du das?«
Sie versuchte erfolglos, ihm ihren Arm zu entwinden. Angstgeweitete Augen.
»Wir müssen uns genau überlegen, wie wir vorgehen. Wir waren uns doch einig … «, sagte er leise. Nun hatte er sich wieder unter Kontrolle.
Sie stöhnte. Er löste den Griff. Schlagartig veränderte sich ihr Blick. »Ich verstehe dich nicht«, murmelte sie. »Du klingst, als wäre nichts. So distanziert. So kühl.« Sie rückte ein Stück von ihm ab. Griff nach ihrem Glas, nahm hastig einen Schluck.
»Verdammt, was erwartest du?«, fuhr er sie erneut an. Sie zuckte zusammen. Er lehnte sich zurück und fixierte sie.
Ihr Atem ging schnell. Sie klammerte sich an ihrem Weinglas fest. »Entschuldige. Entschuldige bitte. Du hast recht. Ich rede die ganze Zeit nur von mir, und du … du … « Sie geriet ins Stocken.
Er half ihr nicht. Er sah dem Kellner zu, wie er Gläser polierte und gegen das Licht hielt. Es waren nur wenige Gäste da. In der Nische vorne beim Eingang erregte ein ungleiches Paar seine Aufmerksamkeit. Der Mann mit Schmerbauch und Maßsakko war wesentlich älter als die Frau. Er konnte seine Hände nicht von ihr lassen. Sie lächelte nachsichtig, ein wenig verächtlich, wie ihm schien, und legte die linke Hand auf den Arm ihres Begleiters. Sofort verflocht der seine Finger mit ihren. Sie griff nach ihrem Glas, drehte es geziert, nahm einen Schluck und sah zu ihm herüber. Ihre Blicke trafen sich. Er senkte den Kopf und fixierte sie aus halb geschlossenen Augen, lächelte und wandte sich um. Mit Geld, dachte er, kannst du jede haben. Er schenkte sich Wein nach, trank und stellte das Glas wieder ab.
Ihre Hand kroch näher. Sag was, dachte er. Mach endlich den Mund auf.
»Du hast deine … Freundin verloren«, flüsterte sie schließlich kaum hörbar.
»Ich will jetzt nicht daran denken«, unterbrach er sie schroff.
Sie nickte. Wagte es nicht, seine Hand zu nehmen. Sie starrte vor sich auf den Tisch. »Es war nicht meine Schuld«, sagte sie leise. »Ich war nicht betrunken. Ich erinnere mich an alles.«
»Ich weiß«, bestätigte er sanft. »Hör auf, dich zu quälen. Sie –«, er machte eine längere Pause, ließ seinen Blick erneut durch das Lokal schweifen und seufzte, »Kathrin hat mehrere Gläser gekippt. Mehr als ihr guttat. Die war ziemlich angesäuselt. Ist ausgerutscht … ein Unfall.«
»Ich habe –«, sie schien mit sich zu ringen, »sie nicht besonders gemocht.«
»Ich weiß. Es war nicht zu übersehen«, sagte er knapp.
Sie riss die Augen auf. Ihre Mundwinkel begannen zu zittern, das Kinn bebte. Nun heulte sie. Er legte seine Hand auf ihren Unterarm, während der Kellner an den Tisch trat, den Wein einschenkte und sich bemühte, ihre Tränen zu übersehen.
Er hob sein Glas. Sie reagierte nicht. Er trank. Die Pasta kam.
»Ein Unfall, ja«, schniefte sie. »Ich habe ihr nichts getan. Ich habe sie nicht gestoßen. Du musst mir glauben, dass ich … ich bin nicht eifersüchtig, das weißt du doch.« Er reichte ihr ein Taschentuch, was eine neuerliche Sturzflut auslöste.
»Bitte beruhige dich.« Er nahm einen Schluck Wein. »Tut mir leid«, sagte er, »ich sterbe vor Hunger.