Lichtschacht. Anne Goldmann

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Lichtschacht - Anne Goldmann

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ich meine … « Er verheddert sich. »Deine Familie.«

      »Aus Salzburg.«

      Wären die Schorns besorgt, wenn sie verschwinden würde? Oder voller Zorn? Würden sie nachsehen, die Nachbarn fragen oder es nach ein paar erfolglosen Anrufen dabei bewenden lassen und die Schlösser austauschen?

      Und Wolfgang?

      »Ich hatte Pech mit meiner letzten Aushilfe. Ja, wenige Tage nach dem ersten Lohn war sie weg. Hat mich im Regen stehen lassen, mitten in der Urlaubszeit, stellt euch vor! Wenigstens hat sie den Schorns nicht die Wohnung ausgeräumt. Sehr unangenehm, das. Nun, man kann in niemanden hineinschauen. Und im Allgemeinen sind sie ja zuverlässig.«

      So in etwa? Nein, sie tat ihm unrecht. Er würde sich Sorgen machen. Nachsehen. Bestimmt. Sie öffnete das Ablaufventil, stieg aus der Wanne, rubbelte sich trocken und hüllte sich in ein großes Badetuch.

      Wer blieb sonst? Steffi war noch gut ein halbes Jahr unterwegs. Mit Elias herrschte seit zwei Wochen endgültig Funkstille. Erst verletzt, dann zornig hatte sie die Handynummer gewechselt, auf Facebook ihren Status geändert und zwei Tage später den Account stillgelegt. Von den anderen, die sie zurückgelassen hatte, würde sich niemand wundern, wenn sie eine Zeitlang nichts von sich hören ließ. Ihre Freundinnen – zum Großteil frühere Kolleginnen – und die wenigen Freunde waren während ihrer Beziehung mit Elias nach und nach verlorengegangen.

      Hier, in Wien, kannte sie noch niemanden. Die Nachbarin rechts – Mittelalter, Hüftleiden – bekam kaum die Lippen auseinander, um »guten Morgen« zu wünschen. In der Wohnung links hörte Lena fallweise jemanden gehen oder ein Fenster zuschlagen. Oft brannte die halbe Nacht Licht. Wer immer dort lebte, schlief noch, wenn sie das Haus verließ, und machte die Nacht zum Tage. Im Lift Zufallsbegegnungen, die sie nicht zuordnen konnte.

      Du bist das perfekte Opfer! Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.

      Hatte sie eigentlich abgeschlossen? Die Sicherheitstür hatte außen einen Knauf. Trotzdem … Sie raffte das Badetuch zusammen, lief barfuß durch den Flur.

      Prallte zurück: Die Klingel! Jemand war an der Tür. Sie verharrte, nur durch das Türblatt vom Unbekannten getrennt, und wagte kaum zu atmen. Ihr Puls flog. Es musste bereits acht, halb neun sein. Wieder schrillte die Glocke. Nachdrücklich. Fordernd. Ein Fremder, ganz sicher! Mit der ganzen Hand auf der Klingel – so läutete kein Nachbar. Wie war er ins Haus gekommen? Sie beschloss, sich totzustellen. Sie kannte hier niemanden. Ein Notfall? Feuer? Sie schnupperte: Nein. Überlegte, durch den Spion zu schauen, und verwarf den Gedanken sofort. Damit war klar, dass jemand zu Hause war! Sie sah sich selber: halbnackt im Flur, hektisch um sich blickend, das feuchte Badetuch über der Brust gerafft. Die Klingel gellte in ihren Ohren.

      Sie machte kehrt und floh ins Wohnzimmer. Auf Zehenspitzen, wie sie grimmig feststellte. Sie schlich durch ihre Wohnung, nur, weil jemand an der Tür war! Anläutete. Sie löschte das Licht.

      Plötzlich war es still. Sie wartete. Der Unbekannte hatte aufgegeben. Sie tappte zum Fenster und spähte auf die Straße. Hob zögernd den Blick. Natürlich war niemand auf dem Dach! Sie behielt den Gehsteig vor dem Haus im Auge.

      Sie hätte sich ohrfeigen können. Wie konnte man so himmelschreiend blöd sein, sich ohne Not eine Paranoia anzuzüchten! Irgendein Zeug zu rauchen, sich den Kopf zu vernebeln, weil man sich nach knapp zwei Wochen beinahe allabendlichem Putzen, Waschen und Aufräumen in der nun wieder ordentlichen Steffi-Wohnung, in der neuen Stadt, plötzlich sehr allein gefühlt hatte. Weil kein Wein mehr da war. Weil man sich nicht aufraffen konnte, irgendwohin zu gehen. In ein Lokal. Sich an eine Theke zu stellen. Jemanden anzureden.

      Es konnte dieser Mann da gewesen sein. Er war dunkel gekleidet und trug eine Umhängetasche. Er verlangsamte den Schritt, zögerte, wandte sich dann um und schaute zu ihren Fenstern herauf. Sie ging in Deckung. Als sie wieder auftauchte, war er verschwunden. Oder dieses Paar, die Frau … nein – die hatte kürzere Haare. Nein, der da! Es war hoffnungslos. Hirngespinste. Die Straßenlampen gingen an. Ein Pizzazusteller fuhr vorbei. Lena legte sich auf das Sofa und starrte ins Dunkel.

      »Mörder!« Sie erwachte mit einem Schrei. Wo war sie? Der Raum war in rötliches Licht getaucht. Um sie zerknüllte Kissen. Sie selber halb nackt, bis zur Hüfte in ein Badetuch gewickelt. Sie hatte die Nacht auf dem Sofa verbracht! Ihre Füße tasteten über den rauen Stoffbezug. Ihr Herz schlug wie wild, der Mund war ausgedörrt, der Hals brannte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriff: ein Traum. Sie hatte nur geträumt!

      Der Mann zwingt sie zu springen, und obwohl die Aussichtsplattform gut besucht ist, greift niemand ein. Zwei Paare stehen eng umschlungen und küssen sich, Kinder wirbeln wie wild gewordene Kreisel zwischen den Erwachsenen herum und spielen Fangen. Direkt neben ihr hantiert ein dicker Mann gelassen mit einem imposanten Teleobjektiv, während ihr Mörder, der kein Gesicht hat, näher rückt und sie an den brüchigen, ungesicherten Rand drängt: »Spring!«

      Rostige Eisenteile ragen ins Leere. Sie sieht sich – plötzlich von außen – an einem Balken hängen bleiben, über dem Abgrund baumeln wie in einem Horrorfilm. Sieht Straßen, Autos, Menschen unter sich, bevor ihr Blick verschwimmt. Ein Dröhnen in den Ohren, sie hofft, ohnmächtig zu werden, spürt, wie der Stoff reißt. Dann fällt sie – und schreit. Schreit.

      Sie träumte sonst nie. Legte sich abends hin und schlief wie ein Stein. Sprang morgens vergnügt aus dem Bett. Alles war durcheinander. Sie musste es wieder in den Griff kriegen, etwas dagegen tun.

      Nun stieg langsam die Sonne empor. Der beeindruckende Scherenschnitt einer Dachlandschaft mit Kränen vor flammendem Rot. Sie wickelte sich in das Badetuch und ging zum Fenster. Schaute auf die stille Straße hinunter.

      Sie war ständig allein. Kein Wunder, dass das ganze Zeug in ihren Schlaf kroch und sie verrückt machte. Ich sollte endlich ausgehen, Leute kennenlernen. Sie hatte es sich einfacher vorgestellt.

      Sie lief hinunter und holte die Zeitungen. »Alle drei?«, fragte der Trafikant. Sie nickte. Kaufte in der kleinen Bäckerei nebenan Milch und ein Brioche, machte Kaffee und setzte sich an den Tisch am Fenster.

      Die Sonne streichelte ihren linken Oberarm, wanderte langsam über die Schulter und legte sich auf ihren Nacken. Diese Wohnung war ein Glücksgriff, ihr ganz persönlicher Lottogewinn. Lena kaute, genoss die Wärme und sog den Kaffeeduft ein, nahm hin und wieder einen Schluck, während sie akribisch Seite um Seite die Zeitungen durchsah und nach einer Toten fahndete, von der sie hoffte, dass es sie nicht gab.

      »Leiche gefunden.« Ihr Herzschlag setzte aus. »Tote lag tagelang in Wohnung. Keiner der Nachbarn hat etwas bemerkt.« Porzellan klirrte auf Porzellan, der Kaffee ergoss sich über die Seiten. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff: Die Frau war alt, der Fundort eine Villenetage im Botschaftsviertel.

      Wenn das so weiterging, war sie über kurz oder lang ein Nervenbündel. Niemand hat gemordet. Es gibt keine Tote. Alles wird gut. Es war, als würde man sich selber in den Arm nehmen. Durch einen finsteren Wald stolpern und sich lautstark versichern, dass man keine Angst zu haben brauchte. Ungeheuer gibt es nicht!

      Sie fuhr ihr Notebook hoch, löschte eine Menge Spam und schickte eine E-Mail an Steffi:

       geht’s dir gut, gibt’s schon fotos? die vernichtung der beweismittel ist abgeschlossen.;-) die belohnung hatte es in sich.:-*, lena

      Dann klappte sie den Laptop zu, knüllte die nasse Zeitung zusammen und stellte ihre Tasse in den Geschirrspüler. Sie brachte den Müll hinunter, bezog das Bett neu und startete eine Waschmaschine. Um halb elf verließ sie das Haus.

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