Verhängnis in der Dorotheenstadt. Jan Eik

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Verhängnis in der Dorotheenstadt - Jan Eik

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war drauf und dran sich zu empören. Den toten Freund mit dem »Nasenquetscher« zum Koppe’schen Armenhaus zu befördern - etwas Widersinnigeres fiel einem empfindungslosen Menschen wie Werpel nicht ein! Jeder in der Residenz kannte das armselige Gefährt mit dem flachen Behältnis darauf, das die Selbstmörder, all die Unglücks- und Wasserleichen und die unter fragwürdigen Umständen irgendwo und irgendwie aus dem Leben Geschiedenen in das gerichtliche Obduktionshaus, das berüchtigte Türmchen in der Auguststraße expedierte.

      Dem Commissarius schien die eilige Entscheidung angesichts Gontards Auftauchen und dessen Entrüstung wohl selbst nicht mehr ganz angemessen, weshalb er es für nötig befand, sie zu verteidigen: »Demoiselle haben uns versichert, dass hierorts keine Angehörigen des Verstorbenen ansässig sind.«

      »Herr Doktor Heidenreich steht in Königlich Preußischen Militärdiensten!«, war alles, was Gontard darauf in aller Deutlichkeit zu erwidern wusste und damit dem Commissarius endgültig das Ausmaß der Fehlentscheidung klarmachte.

      Was Werpel darauf erwiderte, überhörte Gontard. Er war an das Totenbett Gebhardt Heidenreichs getreten, ein schmales Matratzenlager nur, das der Dahingegangene in seinem Todeskampf anscheinend beschmutzt hatte.

      Minutenlang stand Gontard stumm und starrte auf den Leichnam. Heidenreich trug ein nicht sehr reinliches Hemd, den Unterkörper verbarg eine Decke. Auf der tief eingebeulten Lagerstatt war der gekrümmte Leichnam mit ausgestreckten Unterarmen auf die Seite gerollt. Es sah aus, als hätte jemand vergeblich versucht, die Leiche auf dem Rücken auszustrecken und deren Hände zu falten.

      Von Gontard, obwohl seit frühester Jugend Soldat, hatte nie an einer Schlacht teilgenommen, ja in seinem Leben überhaupt nur wenige Leichen gesehen. Diese hier erschien ihm besonders entsetzlich.

      Trotz des ekelhaften Geruchs, der von dem Erbrochenen auf dem Kissen ausging, beugte er die Knie, um dem Toten in das verzerrte Gesicht unter dem wirren Blondhaar zu blicken. Erschüttert suchte er, die vertrauten Züge des Freundes zu entdecken, dessen erstarrte Arme sich ihm flehend entgegenreckten. Unter den nicht gänzlich geschlossenen Augenlidern schien Heidenreich ihn anzublinzeln, als sei alles nur ein böser Spaß.

      »Haben Sie ihn gänzlich untersucht?«, fragte Gontard den Arzt, der hinter ihn getreten war. Der nickte gemessen, wies aber darauf hin, dass er noch nicht über die hiesige Approbation verfüge und demzufolge ein weiterer Kollege den Tod und die wahrscheinliche Ursache bescheinigen müsse.

      »War das der Herr, dem ich auf der Treppe begegnet bin?«

      Bächerle schüttelte den Kopf und blickte Werpel an. Der machte eine abwehrende Geste. »Dieser Herr hat mit dem vorliegenden Fall nicht das Geringste zu tun«, erklärte er so kategorisch, dass Gontard fragend die Augenbrauen hob. »Es handelt sich um einen Besucher des prinzlichen Vorreiters Spielvogel, der mit seiner Familie die Nebenstube bewohnt.« Werpel wies auf die Tür, hinter der noch immer ein Kind greinte. »Ich habe ihn bereits befragt.«

      Wieder erschien es Gontard, als habe Albertine Werpels Aussage etwas hinzuzufügen, wage es jedoch angesichts dessen grimmiger Miene nicht.

      Mit einem gewissen Unbehagen fasste Gontard seinen Eindruck zusammen: »Die ganze Angelegenheit erscheint mir reichlich mysteriös …«

      »Na eben!«, mischte sich Werpel sofort ein. »Deswegen muss die Leiche umgehend zur Obduktion gelangen!«

      »Dafür werde ich Sorge tragen«, sagte Gontard entschieden. Ihm lag daran, dass sein Freund Friedrich Kußmaul den Toten begutachten würde. Möglicherweise würde man Heidenreichs Leichnam vor den Studenten und fremden Ärzten im anatomischen Theater sezieren, doch das erschien ihm allemal würdiger als das erniedrigende Türmchen. Schon lange kämpfte der Professor der Staatsarzneikunde Johann Ludwig Casper um eine der Residenz angemessene Morgue, wie London oder Paris sie besaßen. Der Bau eines solchen Leichenhauses war nunmehr auf dem Charitégelände vorgesehen.

      Überraschenderweise stimmte Werpel Gontards Entschluss sofort zu. Der hatte ihn im Verdacht, mit dem Leichen-Commissarius in der nahen Friedrichstraße in Absprache zu stehen, der für das gesamte Beerdigungswesen der Hauptstadt zuständig war. Ein lukrativer Posten, wie jedermann sich vorstellen konnte.

      Schweren Schrittes trat von Gontard aus der engen Stube. Albertine war schon halb die Treppe hinunter, doch er konnte sie noch aufhalten. »Wann haben Sie ihn gefunden?«, fragte er.

      Sie starrte ihn an, aus furchtsamen Augen, wie ihm schien, und sagte leise: »Mir fiel nicht auf, dass er heute Morgen das Haus gar nicht verlassen hat …«

      Für Gontard war das keine ausreichende Auskunft. Er fragte noch einmal: »Aber wann haben Sie ihn gefunden?«

      »Als ich seine Stube aufräumen wollte. Heute ist Freitag, da werden die Dielen gescheuert.«

      »Als er gestern Abend nach Hause kam - ist Ihnen da etwas an ihm aufgefallen?«

      Albertine blickte an ihm vorbei auf Werpel oder den Arzt, das vermochte Gontard nicht zu erkennen, und schüttelte den Kopf. »Er war wie immer …«

      »Und seine Tür war nicht verschlossen?«

      Für Gontards Geschmack zögerte sie zu lange mit der Antwort. »Ich kann sie öffnen …«, gab sie schließlich zögernd zu und wies ein an ihrem Schürzenband befestigtes Schlüsselbund vor.

      Gontard sah ein, dass einer weiteren Befragung im Augenblick kaum Erfolg beschieden sein würde, zumal Geräusche aus dem Erdgeschoss auf die Ankunft der Eltern Knoppe hindeuteten.

      »Was war das für eine große Gefahr, von der Doktor Heidenreich gesprochen hat?«

      »Ich habe alles Notwendige protokolliert«, wandte Werpel sichtlich verärgert ein. »Von einer Gefahr hat sie mir gegenüber nur in sehr allgemeinen Worten gesprochen …«

      »Albertine!«, tönte eine ängstliche Frauenstimme mit sächsischem Tonfall von unten. Und noch einmal, dringlicher diesmal: »Albertine!«

      Und bevor Gontard zu sagen vermochte, dass er unbedingt noch einmal mit ihr reden müsse, war sie schon die Treppe hinuntergeeilt.

      »Sie entschuldigen mich wohl«, sagte nun auch Doktor Bächerle. Werpel gestattete es gnädig. Der Doktor verbeugte sich beinahe ehrerbietig auch vor Gontard.

      »Falls Sie noch Fragen haben bezüglich des Ablebens Ihres Freundes …«, äußerte er in teilnahmsvollem Ton, »Sie treffen mich jederzeit hier an.«

      Von Gontard nickte ihm zu. »Davon werde ich gewiss Gebrauch machen«, sagte er. Und sei es nur, um zu erfahren, um wen es sich bei dem geheimnisvollen Fremden auf der Treppe handelte, den Werpel so eilfertig aus der Angelegenheit herauszuhalten suchte.

      Seiner Dienststellung nach hatte Traugott Liborius es keineswegs nötig, sich oder sein Handeln zu verbergen. Er war ein beamteter Inspector des Königlichen Polizeipräsidiums am Molkenmarkt, den allerdings gute Gründe zwangen, seine Person und seine Tätigkeit vor jedermann geheim zu halten. Die Begegnung auf der Treppe des Knoppe’schen Hauses erschien ihm deshalb höchst fatal, hatte er bis dato doch jedes Zusammentreffen mit dem Major von Gontard geschickt vermieden. Dass Gontard als der engste Freund des hinreichend verdächtigen Unruhestifters Gebhardt Heidenreich gelten musste, war ihm selbstverständlich ebenso geläufig wie die Tatsache, dass die beiden gemeinsam und im Geheimen angebliche Studien betrieben, hinter deren Sinn und Zweck zu kommen man sich amtlicherseits bisher vergeblich bemüht hatte.

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