Verhängnis in der Dorotheenstadt. Jan Eik
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An jenem Abend war Heidenreich seinem Freund Gontard munterer und besser aufgelegt erschienen als in den Monaten zuvor. Die lärmende Meute, dicht um den Doktor gedrängt, musste selbst einem Tauben auffallen, betrat er den verräucherten Keller in der mittleren Friedrichstraße nahe Unter den Linden, der sich prahlerisch als Kasperskis Weinstube ausgab und dabei eher einer billigen Tabagie glich.
Gontard, mit dreißig Jahren im besten Mannesalter, war weder hörgeschädigt, wie es bei Artilleristen nicht eben selten vorkam, noch ein Kostverächter. Manchen Abend hatte er hier in Heidenreichs Gesellschaft gezecht. Im Augenblick allerdings verspürte er keine Neigung, sich dem ausgelassenen Kreis um den Kollegen anzuschließen. Er war müde. Lärm und überflüssige Reden hatte er tagsüber wahrhaftig genügend ertragen müssen. Er war nur durstig und nicht bereit, an diesem besonderen Tag auf den gewohnten Schlummertrunk zu verzichten.
Gab es nicht allen Grund zum Feiern? Der König ist tot, es lebe der König - das galt für den inzwischen 45-jährigen ewigen Kronprinzen allemal, der lange auf diesen Tag hatte warten müssen. Seine Untertanen fühlten mit ihm und hofften auf ihn. Es konnte ja nur besser werden. Zumindest anders. In den vergangenen zehn Jahren hatte sich in Preußen nicht viel bewegt, sah man von den ausufernden Aktivitäten der Polizei und ihrer ungezählten Zuträger einmal ab und davon, dass seit zwei Jahren eine Eisenbahn zwischen Berlin und Potsdam verkehrte. Auf dem Gelände der alten Scharfrichterei entstand gerade der Stettiner Bahnhof.
»Bleierne Jahre« nannte Heidenreich das Jahrzehnt stets, um im nächsten Atemzug einen Vortrag über die vorzüglichen elektrischen Eigenschaften ebendieses unedlen Metalls anzustimmen. Hingewiesen auf den in seinen Worten schlummernden Widerspruch bei der Bewertung des grauen Elements, wusste Heidenreich seinen Exkurs sogleich auf die positive wie negative Wirkungsweise und Richtung des elektrischen Stroms auszudehnen, was endlich auch den letzten Zuhörer die Ohren verschließen ließ. Es sei denn, es handelte sich um einen jener übereifrigen Schüler, die jede Äußerung aus Heidenreichs Mund für Manna nahmen, während andere sie heimlich mitschrieben, um sie höheren Ortes anzubringen, wo man sie ebenfalls nicht recht zu deuten wusste. Heidenreichs ergänzende Behauptung zur bleiernen Zeit, es könne bekanntlich noch so dumm kommen, man lerne immer etwas dazu, forderte einen Vorwitzigen immerhin zu der Frage heraus, wie er das wohl meine. Worauf Heidenreich empört seine wilde Mähne schüttelte und den Fragenden durch seinen Kneifer fixierte. »Doch wohl so, wie Sie es verstehen, werter Herr!«
Das war Gebhardt Heidenreich, wie er leibte und lebte, und an diesem Abend schien er ganz in seinem Element, bemerkte jedoch in einem wachen Moment den eben eingetretenen Freund und erhob sich zu dessen übertrieben unterwürfiger Begrüßung. Dass er damit nur die vormitägliche Huldigung von Friedrich Wilhelm IV. durch die untertänigen Berliner Bürger karikierte, fiel vermutlich nicht alleine von Gontard auf. Auch ihn hatte das Stunde um Stunde währende Zeremoniell zunehmend angewidert, all diese Lobhudeleien und Ergebenheitsadressen an einen Monarchen, der sich im Gegensatz zu seinem einsilbigen Vater und Vorgänger, auf den er sich ausdrücklich berief, als erstaunlich redselig erwies und im Laufe der Feierlichkeiten mehrfach das Wort ergriff, ohne dabei allerdings Wesentliches verlautbaren zu lassen. Verstanden hatten ihn ohnehin nur diejenigen, die der eigens errichteten hölzernen Empore nahe genug standen, einem mit einer geschmückten Balustrade und weiten Treppenaufgängen versehenen Vorbau vor der Lustgartenfassade des Schlosses, unter deren höchster Überdachung Friedrich Wilhelm in seinem Thronsessel die Zeremonie genoss.
Gontards Geschmack traf derlei Pomp und Aufwand nicht, doch hatte er als Militär gelernt, seine persönlichen Anschauungen für sich zu behalten. Eigene Meinungen waren in Preußen nicht gefragt. Das würde sich kaum ändern. Anscheinend fiel es den wenigsten Staatsbürgern auf, dass vom neuen König öffentlich nicht nur vom Herrscher, sondern auch vom »Beherrscher« die Rede war.
Dabei hatte dessen Herrschaft im Sommer durchaus hoffnungsvoll begonnen. Der huldvolle Monarch hatte die vor Jahren zum Tode verurteilten Burschenschafter endgültig freigegeben und im Laufe seiner ersten Regierungsmonate noch mancherlei getan, was die Erwartungsvollen wie die Unzufriedenen beruhigte. In fröhlicher Runde konnten Heidenreich und Gontard die Gläser auf die neuernannten Leuchten der Wissenschaft an der Universität erheben, die wegen ihrer Unbotmäßigkeit in Göttingen abberufenen Gebrüder Grimm, die nunmehr das Berliner Geistesleben beflügeln würden. Was von dem erzkonservativen Stahl kaum zu erwarten war, wie Heidenreich sofort eingewandt hatte. Dass man zahnlose Greise wie den alten Turnvater Jahn nicht länger unter Polizeiaufsicht zu halten gedachte und betagte Alt-Politiker wie Herrn von Boyen wieder zu Generälen berief, hielt er kaum für ein Anzeichen künftiger Liberalität. Die Verfassungsfrage, so dozierte er, sei der entscheidende Faktor, an dem sich jede Progression der Monarchie messen lasse.
Die im Mai 1815 im Überschwang des Sieges über die Franzosen von Friedrich Wilhelm III. versprochene Verfassung war im Laufe der Jahre zumindest beim König selbst gänzlich in Vergessenheit geraten - nicht jedoch bei seinen Landeskindern. Bald hatten die drakonischen Demagogenverfolgungen das ihre dazu beigetragen, die Erfüllung jenes Versprechens besser nicht anzumahnen. So blieb es 25 Jahre lang.
Im September 1840 hatte der neue Monarch die Erbhuldigung der Stände des Königreichs Preußen und des Großherzogtums Posen hinter sich gebracht und bei dieser Gelegenheit sechs neue Grafen und einen Freiherrn ernannt, zehn Rittergutsbesitzer in den Adelsstand erhoben und 53 Orden verliehen. In Berlin hatte Ähnliches in weitaus größerem Maße stattgefunden. Alles nur billiger Protz, wie Heidenreich schon vorher gegenüber von Gontard anzumerken wusste, der ihm nicht widersprach.
Immerhin hatte sich bereits in Königsberg erwiesen, wie der neue Friedrich Wilhelm auf das eigentliche Problem Brandenburg-Preußens reagierte. Dort hatte sich der Landtag des alten Rechts besonnen, anlässlich der Huldigung Bitten und Beschwerden vorzubringen. Mit großer Mehrheit wurde der Antrag auf reichsständische Verfassung gemäß dem königlichen Versprechen vom 22. Mai 1815 vorgetragen, was der König höchst ungnädig aufgenommen und im Landtagsabschied glatt abgelehnt hatte. Der vorige König, so ließ Friedrich Wilhelm IV. den in allen Landen ernüchtert aufhorchenden Untertanen verkünden, sei nach reiflicher Überlegung von der allgemeinen Volksvertretung zurückgekommen und habe sich zu der provinzial- und kreisstädtischen Verfassung als dem der deutschen Volkstümlichkeit entsprechenden Weg entschlossen. Diesen Weg werde auch er selbst unabänderlich verfolgen.
Damit war alles gesagt. Von Gontard, seitens der Familie von durchaus königstreuer Herkunft und an Unabänderliches gewöhnt, missbilligte Heidenreichs Erregung dennoch nicht, fürchtete jedoch, dass den Freund noch mancherlei Schwierigkeiten erwarteten.
Zum Ritterstande gehörig, durfte von Gontard zusammen mit den Standesherren und dem hohen Klerus an der Huldigung im Weißen Saal des Schlosses teilnehmen, während sich bürgerliche Naturen wie Heidenreich nach dem Défilé im verregneten Lustgarten eilig in die trügerische Geborgenheit des Kasperski’schen Weinkellers zurückzogen. Wie lange sie hier schon beieinanderhockten, war der Lebhaftigkeit und Lautstärke ihrer Gespräche anzumerken, wobei sie sich bezüglich der Themen keineswegs die übliche Zurückhaltung auferlegten. Es schien, als fürchte an diesem Abend niemand die tausend Ohren der Geheimen Polizei, die in Kasperskis Etablissement so sicher lauschten wie an jedem öffentlichen Ort. Unweit der dichtgedrängten Heidenreich’schen Schar, die Kasperski persönlich bediente, hockte auch hier einer ganz allein an einem Tischchen, schlecht getarnt durch ein Journal, in dem er vorgab zu lesen, und ließ die Kugelaugen hin und her blitzen.
Auch dieses Spähers wegen hielt es von Gontard für geraten, sich mit einer abwehrenden Handbewegung bei Heidenreich zu entschuldigen und ihn mit einer weiteren Geste vor allzu großer Kühnheit zu warnen, bevor er sich einen ruhigeren Platz suchte. Zu seiner Überraschung fand er den im Nebenraum, wo eine weitere muntere Runde bei einem guten Schoppen am Tisch saß, darunter der Schriftsteller Julius Eduard Hitzig. Was mochte den an einem solchen Abend ausgerechnet in Kasperskis schlecht beleumdetes