Verhängnis in der Dorotheenstadt. Jan Eik

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Verhängnis in der Dorotheenstadt - Jan Eik

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alt, hatte sich zeit seines Lebens nur mit einem einzigen, höchst bemerkenswerten Objekt befasst, dem Menschen, und war dabei mit allen Abgründen menschlicher Verworfenheit in Berührung gekommen. Obwohl er sich niemals weiter als bis Jüterbogk aus der preußischen Residenz entfernt hatte, kannte er die Welt und durchschaute sie bis ins Kleinste. Die Menschen waren überall gleich. Und gleich gefährlich. Um das herauszufinden, bedurfte es lediglich eigener Anschauung und nicht des Studiums dicker Bücher. Wäre ihm das Schreiben leichter gefallen, hätte er seine diesbezüglichen Erkenntnisse dennoch gerne weitergegeben - natürlich nur an vertrauenswürdige Personen, deren es nicht allzu viele gab. Die Ketzerei, wie man solche Rebellion in früheren Zeiten bezeichnet hatte, machte vor niemandem Halt, nicht einmal vor Militärs und den höheren Ständen. Handwerker taten sich zusammen, um gegen die gottgewollte Ordnung zu opponieren, Schulen und Universitäten entwickelten sich zu Brutstätten staatsgefährdender Ideen, vor denen weder Zeitungen noch Theater sicher waren. Von der sogenannten Wissenschaft ganz zu schweigen. Mehr als zwanzig Jahre Erfahrung und gründliche Beobachtung gestatteten es Liborius, Begriffe wie Physik und Philosophie, Elektrizität oder Pädagogik als fremdartige und höchst nutzlose Auswüchse menschlichen Geistes einzuschätzen, sämtlich von Männern ersonnen, denen es an Gottesfurcht und Königstreue mangelte.

      So war er auf diesen Doktor Heidenreich gestoßen oder vielmehr gestoßen worden, denn Liborius tat in der Regel, was der Geheime Rath von Bewerstorff am Molkenmarkt von ihm verlangte, der wiederum seine Befehle aus höheren Sphären empfing, wohin der gemeine Untertanenverstand üblicherweise nicht reichte. Dessen ungeachtet war Liborius darin geübt, auf Zwischentöne zu lauschen, Andeutungen zu erkennen und Zusammenhänge zu deuten, wo solche insgeheim bestanden, wie beispielsweise zwischen dem auffälligen Interesse Heidenreichs am Stammbaum des Königshauses, einer gewissen weiblichen Bekanntschaft des Doktors und einem weiteren Lehrer an der Artillerieschule. Den, einen alten Krieger von rechtem Schrot und Korn, wusste Liborius leicht für seine Zwecke zu gewinnen, ohne etwas von den vermuteten Hintergründen preiszugeben. Die kannte er nicht wirklich. Dass sie ein Mitglied des Herrscherhauses betrafen, war jedoch mehr als eine Ahnung.

      Um wen konnte es sich handeln? Prinzen und Prinzessinnen gab es im fruchtbaren Stammhaus Hohenzollern dutzendweise. Der hochselig dahingegangene König, dessen jüngster Bruder noch unter den Lebenden weilte, hatte neben dem Kronprinzen und Nachfolger drei weitere Söhne und vier Töchter hinterlassen, über die das eine oder andere harmlose Histörchen kursierte - mehr nicht. Wer von denen in eine wie auch immer geartete Verbindung zu diesem Heidenreich und dem Oberst-Lieutenant verwickelt sein mochte, blieb ein Rätsel.

      Durch einen blanken Zufall und keineswegs ganz ohne eigene Überlegung war Traugott Liborius auf eine vielverheißende Spur gestoßen, nachdem der Geheime Rath von Bewerstorff in seiner Gegenwart Einblick in ein schmales Aktenstück mit der Aufschrift P. A. genommen und ihn anschließend aufgefordert hatte, alle Anstrengungen bezüglich Heidenreich zu vermehren. »Finden Sie alles heraus, was der Kerl treibt, was er denkt, mit wem er umgeht und so fort!«

      P. A., hatte Liborius gedacht und sich das Hirn zermartert, wen die geheimnisvolle Akte wohl betreffen könnte. Bis ihm im Gespräch mit einem seiner niederen Vigilanten an der Artillerieschule wie von selbst die Erleuchtung kam. »Ich glaube, der Herr Oberst-Lieutenant verdankt seine Stellung hier im Hause vor allem der Einflussnahme Seiner Königlichen Hoheit, des Prinzen August«, hatte der Zuträger treuherzig geäußert, der dort selbst nur das Gnadenbrot kaute und für gewöhnlich nichts als Geschwätz an Liborius weitergab.

      Prinz August! Dass er darauf nicht selber gekommen war! Der Prinz, eine immer noch eindrucksvolle Gestalt mit schlohweißem Haar und großem Charme, galt in Berlin beinahe als ein volkstümliches Original. Seit drei Jahrzehnten Chef der preußischen Artillerie und damit auch Kurator der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule, die er begründet hatte, war er seiner strengen Inspektionen und Prüfungen wegen ebenso gefürchtet, wie er bei Mannschaften und Offizieren beliebt war.

      Es war allgemein bekannt, dass es sich bei dem 1779 im Schloss Friedrichsfelde geborenen Prinzen August um den letzten Spross aus der Hohenzollern-Generation des großen Friedrich handelte. Er war der Sohn von dessen jüngstem Bruder Ferdinand, der seine und Friedrichs Nichte Anna Luise von Brandenburg-Schwedt geheiratet hatte. Augusts unvergessener Bruder Louis Ferdinand war 1806 auf dem Schlachtfeld den Heldentod für Preußen gestorben und genoss noch immer allgemeine Verehrung.

      Es fiel Liborius nicht schwer herauszufinden, dass ihre militärischen Ruhmestaten keineswegs das einzige waren, was die Brüder auszeichnete. Hatte bereits Louis Ferdinand nicht nur dank seiner Körpergröße und seiner musikalischen Talente bei den Damen aufsehenerregende Erfolge verbucht, so schien es auch August darauf angelegt zu haben, weibliche Schönheiten gleich im Dutzend mit seiner Huld zu beglücken. Liborius sträubten sich die spärlichen Haarfusseln unter der Perücke, und der Schweiß lief ihm den Nacken hinunter, als er sich nach und nach mit des Prinzen höchst privater Tatkraft in diesem galanten Fach vertraut machte. Wenn alle diese Angaben über den hochgeborenen Frauenliebling in unrechte Hände - sprich in die eines Doktor Heidenreich und seiner demagogischen Kumpane - gerieten, dann, so Liborius’ unmaßgebliche Meinung, verfügten die Feinde der Monarchie über explosivere Munition als Augusts gesamte Artillerie.

      Leider verleitete ihn seine wohldurchdachte Annahme zu einer Unvorsichtigkeit, die beinahe bedauerliche Folgen gehabt hätte. Dem Geheimen Rath gegenüber, der ihn schon des Öfteren seines mangelnden Scharfsinns wegen getadelt hatte, erwähnte er in einer beiläufigen, aber nicht ganz absichtslosen Bemerkung den Namen des Prinzen und erzielte damit eine ungeahnte Wirkung.

      »Falls in diesem Bureau und in Verknüpfung mit angewiesenen geheimen Untersuchungen noch einmal der Name eines Mitgliedes der Königlichen Familie fällt, sind Sie ein toter Mann, Liborius!«, brüllte von Bewerstorff.

      »Zumindest finden Sie sich als Constabler im letzten Winkel der posenschen Provinz wieder. Haben Sie das begriffen? Der Königliche Hof hat außerhalb aller Ihrer dümmlichen Erwägungen zu stehen!«

      Liborius verstand nur allzu gut, gedachte jedoch, sich nur mit Einschränkungen daran zu halten. Immerhin hatte ihm der Wutausbruch Seiner Exzellenz die Richtigkeit seiner Mutmaßung bestätigt. Zwar wusste er noch immer nicht, wie ausgerechnet die Subjekte, auf deren Spuren er wandelte, unmittelbar mit der Person des Prinzen verkettet waren, aber das beabsichtigte er, allmählich herauszubringen. Auf diesen Heidenreich und seinen Umgang schien es hauptsächlich anzukommen. Also hatte er im Laufe von Monaten entsprechende Vorsorge getroffen, jederzeit über dessen Handeln informiert zu sein, ja, er war sich nicht einmal zu schade, die Wege des Delinquenten mitunter aus angemessener Entfernung selbst zu überwachen, wie er es am vergangenen Abend getan hatte. Ein grober Fehler, wie ihm schwante, nachdem er dem Major von Gontard begegnet war.

      Wie sollte es jetzt weitergehen mit seinen Ermittlungen, nachdem das Objekt seiner Aufmerksamkeit eines so unerwarteten Todes gestorben war? Am Molkenmarkt würde man allerlei Fragen stellen. Weshalb hatte er alle Schritte dem Criminal-Commissarius überlassen und nicht sofort allen irdischen Besitz des Toten mit Beschlag belegt? Dazu hätte er sich der Knoppe-Tochter und dem fremden Doktor gegenüber aus seiner Deckung begeben müssen. Wie aber sollte es ihm jetzt, nach Gontards Auftauchen, noch gelingen, verräterisches Schrifttum im Besitz oder aus der Feder des Verstorbenen sicherzustellen?

      Sorgenvoll machte sich Traugott Liborius auf den Weg zum Molkenmarkt. Er ahnte, dass ihm Unannehmlichkeiten bevorstanden. Wenn er Glück hatte und seine Begegnungen mit Gontard verschwieg, setzte der Rath ihn gegebenenfalls auf den Major an. Eine erste Verbindung in dessen nächster Umgebung war bereits geknüpft, und die zur Artillerieschule ließen sich weiter nutzen. Nur er selber musste sich vorläufig fernhalten von diesem Gontard mit dem scharfen Blick.

      Während er an der Schlossfreiheit vorbei hinüber zur Breiten Straße eilte, erinnerte er sich an das Zusammentreffen auf der Treppe. Hatte sich im Gesicht des Majors so etwas wie ein Wiedererkennen gespiegelt? Er selbst war am Vorabend viel zu sehr mit Heidenreich und

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