Tod im Thiergarten. Horst Bosetzky
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Als Dölau und seine Braut endlich an Ort und Stelle waren, gab es kaum noch einen freien Platz, denn inzwischen hatten sich auch die Väter, Brüder und Cousins der hiesigen Arbeiter eingefunden. Im Schatten hoher Bäume wurden die Tische zusammengerückt, die mitgebrachten »Fresskober« geöffnet und die ältesten Töchter losgeschickt, für den Nachschub an Kaffee zu sorgen. Der alte Brauch »Hier können Familien Kaffee kochen« sorgte dafür, dass man sich auch mit einem knapp bemessenen Budget ein prächtiges Vergnügen gönnen konnte.
Am späten Nachmittag begannen in den benachbarten Brauereien und Bierniederlagen die Concerte, und Dan- dys in billigen Handschuhen, das unechte Rohr schwingend, und junge Soldaten umkreisten die Kaffeelocale, um nach den schönen Töchtern des Landes Ausschau zu halten. Putzmacherinnen und Dienstmädchen trafen sich mit ihren Herren zu sogenannten unschuldigen Spielen wie Fanchon, Bäumchen-Verwechseln oder Blindekuh.
Auch Dölau und Anna waren mit von der Partie, sie enteilten aber bald zum Tanz. Im Saal war es heiß und stickig, aber das störte sie wenig, wenn sich ihre Körper aneinanderrieben. Dann wurden farbige Lampen und Ballons angezündet, und es wurde Zeit für romantische Gefühle. Die Herren leerten ihre Seidel in immer rascherem Tempo, und getrieben von bacchantischer Lust verschwand ein Pärchen nach dem anderen in der lauen Nacht. Viel Zeit blieb ihnen nicht, denn irgendwann erschien die Polizei zur Razzia gegen alles Unsittliche - und wer verbrachte schon gern eine Nacht in der Bezirkswache oder gar in der Stadtvogtei am Molkenmarkt No. 2!
Da Anna immer Ärger mit ihrer Herrschaft bekam, wenn sie nicht zwei Stunden vor Mitternacht zu Hause war, musste Dölau wohl oder übel an den Heimweg denken. Diesmal hatte Anna nichts gegen eine Droschke einzuwenden. Dölau bezahlte den Kutscher, als er Anna in der Georgenstraße absetzte. Zum einen war ihm nun doch das Geld ausgegangen, und zum anderen wollte er nicht beobachtet werden, wenn er Anna noch einmal umarmte und ihr dabei den Rock nach oben schob.
Als oben das Fenster aufging, riss sich Dölau von seiner Herzensdame los und lief in Richtung Osten - nicht etwa mit schnellen Schritten, dazu war das Pflaster zu holprig und das Licht der Gaslaternen zu funzlig, sondern eher vorsichtig und tastend. An der Ecke Friedrichstraße angekommen, zögerte er einen Augenblick. Einerseits war er todmüde, andererseits aber nach der letzten Umarmung noch zu erregt, um gleich ins Bett zu gehen. Sich zur Abfuhr eine der Dirnen zu nehmen, die an der Königsmauer standen und warteten, lag nahe. Doch er konnte sich nicht entscheiden und wandte sich erst einmal nach Norden, um sich auf der Weidendammer Brücke ein wenig abzukühlen. Je näher Mitternacht rückte, desto mehr erstarb alles Leben. Zu dieser Uhrzeit gab es allenfalls noch liederliche Berliner, aber kein Berlin bei Nacht. Auf den Straßen war es geradezu öde, nur hier und dort gab es einen Schatten, der an den Häuserwänden entlangschlich oder -taumelte, oder ein lustiges Häuflein, das von einer Gesellschaft heimkehrte. Die Nachtwächter brachen alle Stunde auf, um ihre Runde zu machen, in der Zwischenzeit aber störten oder schützten sie niemanden.
Auf der Weidendammer Brücke angekommen, musste sich Dölau die Nase zuhalten, denn von den träge fließenden Wassern der Spree quollen üble Düfte nach oben, was daran lag, dass alle Fäkalien der Stadt in den Fluss gekippt wurden. Gerade rumpelte hinter ihm ein großer Wagen heran, flankiert von etwa zehn Frauen mit ihren Laternen. Das waren die sogenannten Nacht-Emmas, deren Aufgabe es war, die gefüllten Fäkalieneimer aus den Häusern zu holen und zur Spree zu schaffen. Dölau war bei ihrem Anblick jede Lust auf ein Frauenzimmer vergangen, und so machte er sich schnell auf den Heimweg. Seine Stube hatte er über einer Remise im Hof des Schneidermeisters Hoppe in der Mittelstraße. Weit war es nicht, ging er die Friedrichstraße entlang in Richtung Belle-Alliance-Platz. Nach der Georgenund der Dorotheenkam schon die Mittelstraße. Er bog rechts ab. Noch hundert Schritte, dann hatte er seinen Hausflur erreicht. Er zog schon den Schlüssel hervor, da hielt eine Droschke direkt an seiner Seite, und der Kutscher beugte sich zu ihm hinunter.
»Wohnt hier einer, der Eisermann heißen tut?«
Dölau musste einen Augenblick lang überlegen. »Nein, nich det ick wüsste.«
»Komisch, ich soll ihn aber hier abholen.« Der Kutscher zog einen Zettel aus der Rocktasche und hielt ihn in den Lichtkegel seiner Laterne. »Gucken Sie mal, hier steht doch der Name …«
Dölau reckte sich hoch, um etwas zu erkennen. Im selben Augenblick fegte ihm der Kutscher mit der Handkante den Zylinder vom Kopf, und aus dem dunklen Hauseingang sprang ein Mann, beide Arme vorgestreckt. Die Fäuste umschlossen einen Strick. Es war eine Sache von Sekunden, diesen Dölau um den Hals zu schlingen und fest zuzuziehen, immer fester …
Preußen war durch die Kriege gegen Napoleon verarmt, so dass man in den folgenden Jahrzehnten einfacher und bescheidener leben musste. Statt des äußeren Glanzes war nun die innere Wärme gefragt, und es ging in Berlin vorwiegend bieder zu, ja spießig. Wer laut vom vereinigten Deutschen Reich mit einer Verfassung träumte, wie sie sich die Bürger in England oder den Vereinigten Staaten von Amerika erkämpft hatten, den hatten die Spione und Häscher der politischen Polizei schnell ausfindig gemacht und eingekerkert in der Berliner Hausvogtei oder dem Köpenicker Schloss. Wichtigste Behörde war der Polizeipräsident. Das fortschrittliche Bürgertum reagierte auf die politische Unterdrückung mit dem Rückzug ins Private, ging seinen künstlerischen und literarischen Interessen nach und widmete sich einem unpolitischen, geselligen Leben, während die Mehrheit der Bevölkerung in sozialer Not und keineswegs idyllisch und behaglich lebte. Andererseits aber blühten Handel und Gewerbe auf, und die Industrialisierung setzte auch in Preußen ein: Die ersten Eisenbahnen wurden gebaut oder geplant, Wissenschaft und Bildung, Kunst und Kultur erlebten eine ihrer glanzvollsten Epochen. Die Einwohnerzahl Berlins verdoppelte sich in den drei Jahrzehnten nach den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 von zweihunderttausend auf vierhunderttausend, womit die Preußenresidenz nach London, Paris und St. Petersburg an der vierten Stelle der europäischen Metropolen stand.
Der 8. Mai war ein Sonntag, und für Professor Heinrich Wilhelm Dove war es eine liebe Gewohnheit geworden, am Vormittag mit einem Freund durch den Thiergarten zu spazieren und In den Zelten einen Schoppen Rheinwein zu trinken. Diesmal hatte er sich am Potsdamer Platz mit Dr. August Wilhelm Danewitz verabredet, doch der Geheime Oberregierungsrath ließ ihn ein wenig warten. Dove war es recht, so hatte er noch Zeit und Muße, den Kopf in den Nacken zu legen und zu prüfen, in welche Himmelsrichtung der Wind die Wolken jagte, denn er war mit Leib und Seele Meteorologe, hatte lange über die Veränderung der Witterung durch den Wechsel von Polar- und Äquatorialströmen geforscht und ein Gesetz über die Drehungen der Winde formuliert, das sogenannte Dove’sche Gesetz. 1803 in Liegnitz geboren, hatte er sich in Königsberg habilitiert und war 1829 nach Berlin gekommen, um hier als Physiker am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, an der Artillerieschule sowie am Königlichen Gewerbeinstitut zu unterrichten.
Endlich kam Dr. Danewitz in einer Droschke, entlohnte den Kutscher und sprang auf die Straße, um Dove zu begrüßen. »Ich bitte um Pardon, mein Guter, aber in Hamburg wütet ein grässliches Großfeuer, und mir ist die ehrenvolle Aufgabe zugefallen, Seiner Majestät Vorschläge zu unterbreiten, wie Berlin den obdachlos gewordenen Menschen dort Hilfe leisten kann.«
Dove wusste von der Katastrophe, denn das Feuer war bereits in der Nacht vom 4. zum 5. Mai 1842 am Nikolaifleet beim Cigarrenmacher Cohen ausgebrochen. »Aufgrund der vorangegangenen Trockenheit und anhaltender Winde ist es auf