Attentat Unter den Linden. Uwe Schimunek

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Attentat Unter den Linden - Uwe Schimunek

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prahlten laut mit Abenteuern. Ihre Milchbärte ließen Kirchner vermuten, dass die Angeberei und die Geschichten nur der Phantasie entsprangen. Aber war er selbst viel reifer? Genau betrachtet waren seine Erfahrungen mit Frauen dürftig.

      Er beschleunigte seine Schritte, um Abstand von den Soldaten zu gewinnen. Sofort lief ihm der Schweiß übers Gesicht. Kirchner nahm den Helm ab, zog sein Taschentuch aus der Hose und tupfte sich die Stirn ab. Vor ihm lag eine Weggabelung. Er hörte, wie die Soldaten hinter ihm über ihren Weg diskutierten und schließlich entschieden, nach links abzubiegen. Also wandte sich Kirchner nach rechts. Da vorn floss die Spree am Rande des Thiergartens, eine schöne Ecke, augenscheinlich derzeit nicht sehr belebt. Gut so, denn Kirchner suchte Ruhe, wollte seine Gedanken sammeln.

      Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, weil Pragenaus Schnarchen durch die Stube dröhnte - und wenn er doch eingenickt war, weckten ihn die Schreie in seinen Träumen gleich wieder auf. Dieses mörderische Quieken, er glaubte es jetzt schon wieder zu hören …

      Nein, da war etwas anderes. Die Tonhöhe - das klang viel schriller als im Marstall. Und die Laute kamen von vorn, von der Spree herüber und nicht aus seinem Kopf.

      Kirchner rannte los. Schon wieder!, dachte er. Er schwitzte immer mehr. Trotzdem lief er noch schneller. Er hörte keine Worte, er konnte das Quieken nicht einordnen. Das war bestimmt kein Mensch, dachte er erleichtert.

      Der Weg endete an einer Spreewiese, und dort stand eine ältere Dame am Ufer und fuchtelte mit den Armen - mit offenem Mund, aber ohne ein Wort zu sagen. Ein Fellknäuel trieb vom Ufer weg und strampelte und kläffte. Kirchner lief noch schneller, warf die Pickelhaube ab. Den Waffenrock wurde er nicht so leicht los. Acht Knöpfe wollten geöffnet werden. Er zerrte am Kragen, am Revers, endlich bekam er den Rückenstoff zu fassen und warf das Kleidungsstück ins Gras. Jetzt nur noch die Stiefel! Er hüpfte, bis er sie los war. Mit Hose und in Hemdsärmeln stürzte Kirchner sich in die Spree.

      Das Wasser war kühl wie ein Frühlingsregen, eine angenehme Temperatur. Erst jetzt merkte er, wie stark er geschwitzt hatte. Kirchner schwamm auf das Hündchen zu. Die Strömung war nicht stark, nahm aber gegen die Flussmitte zu. Sie reichte, um den Kläffer stromabwärts treiben zu lassen.

      Also ab in die Mitte und hinterher! Sein Vater hatte ihm das Schwimmen in einem See im Riesengebirge beigebracht, aber seitdem hatte Kirchner kaum Gelegenheit zum Üben gehabt. Meter für Meter kämpfte er sich an das Tier heran. Aus der Nähe sah der Köter aus wie ein kleiner Dämon, japste beim Kläffen nach Luft, strampelte wie ein Besessener auf der Flucht vorm Exorzisten. Die spitzen Eckzähne schnappten beim Bellen. Also nicht ins Maul greifen!, dachte Kirchner.

      Er umkurvte das Hündchen und griff in den haarigen Nacken. Der Kläffer zappelte in seiner Hand, Kirchner packte zu, so kräftig er konnte. Aus dem Quieken wurde ein Wimmern und dann ein Quengeln.

      Kirchner schaute zum Ufer, er war ein ganzes Stück abgetrieben. Der Versuch, gegen die Strömung zurückzuschwimmen, erschien ihm aussichtslos. Mit dem freien Arm kam er kaum von der Stelle, und der Köter jaulte an der rechten Hand, den ließ er nicht wieder los. Er musste ans Ufer schwimmen und dann zu Fuß zu Waffenrock, Stiefeln und Helm laufen, das war die einzige Möglichkeit. Einarmig bewegte sich Kirchner aus der Flussmitte weg, er kam sich vor wie ein Kutter, der gegen den Wind kreuzen muss. Aber immerhin, das Ufer kam näher, und er trieb kaum noch ab.

      Auf der Wiese trappelte ihm die Dame entgegen. Sie trug ein Bündel unterm Arm. Nun, da Kirchner nur noch ein paar Meter zu schwimmen hatte, sah er die Details: Die Alte hielt seinen Waffenrock ordentlich gefaltet in der einen Hand, die Pickelhaube und seine Stiefel in der anderen. Schön, da blieb ihm der Weg zurück erspart. Er merkte, wie seine Kraft nachließ. Allmählich wurde der linke Arm lahm.

      Kirchner tapste, als er schließlich Boden unter den Füßen hatte, die letzten Meter bis zum Ufer und hob den Kläffer aus dem Wasser. Das Quengeln wurde zum aufgeregten Gebell, es klang fast so, als halte er eine Krähe mit nassen Haaren in der Hand. Das Fell triefte genau so wie Kirchners Kleidung. Das Hemd hing an ihm, als seien Gewichte in den Saum genäht.

      In den nassen Sachen war die Hitze angenehm, jedoch pikste es an den Füßen, da er nur auf Strümpfen lief. Kirchner setzte den Kläffer auf die Wiese. Das Tier schüttelte sich und flitzte zu der Alten. Die bückte sich, legte Waffenrock, Pickelhaube und Stiefel ab, nahm das nasse Tier in die Arme und kam damit zu Kirchner gelaufen - mit kleinen Schritten, aber schnell wie ein Wiesel, wackelte sie heran.

      »Hach, junger Herr, Sie waren so mutig! Wie kann ich Ihnen nur danken?«

      »Keine Umstände, meine Dame«, krächzte Kirchner. Er hatte das Gefühl, er müsse sich ausruhen. »Es ist alles in Ordnung.« Er lief noch ein paar Schritte und setzte sich auf der Wiese nieder.

      »Wirklich? Ich muss doch etwas für Sie tun …«

      »Sie müssen auf Ihren Hund aufpassen. Mir geht es gut.«

      Das Tier strampelte in den Armen der Alten. Sie redete auf das nasse Knäuel ein.

      Kirchner winkte und sagte: »Nun gehen Sie nur.« Dann ließ er sich rücklings ins Gras fallen und schloss die Augen.

      »Sie sind ein guter Mensch.« Das war nicht die Alte, aber zweifellos gehörte die Stimme einer Frau.

      Kirchner öffnete die Augen. Eine junge Frau, sie zählte vielleicht achtzehn Jahre und stand mit einem einfachen handbreiten Haarband in den brünetten Locken direkt vor der Sonne. Das Licht, das um ihren Kopf herum blendete, zeichnete die Konturen scharf. Er konnte die Gesichtszüge kaum erkennen. Stand die Frau schon lange da? War er eingenickt? Und wenn ja, für wie lange?

      Er richtete sich auf. In einiger Entfernung tippelte die Alte mit dem Kläffer von dannen. Viel Zeit schien nicht vergangen zu sein.

      »Ich habe eine Decke.«

      Kirchner überlegte, ob er fror. Nein, kalt war ihm nicht. Das Hemd klebte an seinem Oberkörper, und die Hose, nass wie ein Schwamm im Badebottich, schnürte die Beine ein. Doch er fror nicht.

      »Nein, danke, das ist nicht nötig … Aber vielen Dank!« Kirchner stand auf. Die nasse Kleidung beschämte ihn. War dieser Aufzug eines preußischen Offiziers würdig?

      Die Frau trat einen Schritt zurück und sagte: »Ich hoffe, ich wirke nicht aufdringlich.«

      Da bemerkte Kirchner, dass sie offenkundig ohne Begleiter weitab von den großen Straßen im Park war. So eine junge Dame, fast noch ein Mädchen … Nein, wie ein Mädchen sah sie bei näherer Betrachtung nicht aus. Sie war sehr schlank und hatte Rundungen nur dort, wo sie für Kirchners Geschmack hingehörten. Sie trug ein dunkles Kleid, dessen Schnitt die Taille betonte. Als er ihr ins Gesicht schaute, bemerkte er, wie ernst ihre Augen aussahen. Er fragte: »Sind Sie … allein hier?«

      »Nein, bewahre, natürlich nicht!«

      »Oh, ich bitte um Entschuldigung.«

      Sie sah ihn an, und im Augenblick wich die Entrüstung in ihrem Gesicht einer Milde, die erwachsene Geschwister zeigen, wenn sie das Brüderchen bei einer Dummheit erwischen. Kein Mädchen mehr, eindeutig, dachte Kirchner.

      Würdevoll sagte sie: »Mein Vater hat einen Bekannten getroffen, und sie unterhalten sich für eine Weile unter Männern. Er braucht sicher noch einige Zeit, bis er mich abholen kommt.«

      Wäre es nach Kirchner gegangen, so durfte der Vater seine Unterhaltung in aller Ruhe führen. Er schaute über die Wiese. Nur ein paar Schritte entfernt lag eine Wolldecke ausgebreitet auf dem Rasen.

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