Das Geheimnis der Väter. Daniel Eichenauer

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Das Geheimnis der Väter - Daniel Eichenauer

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sein? Da hatten doch bestimmt ein paar Halbstarke im Appelkornrausch die Schilder vertauscht! Sie schaute im Stadtplan nach. Tatsächlich – die Breite Straße war weder breit noch groß, sie war schmal und eng. Die Mehrfamilienhäuser, die sie rechts und links säumten, waren dafür umso prächtiger. Neele näherte sich dem Haus Nummer 24, einem der wenigen schmucklosen Altbauten der Straße.

      In der Schule hatte sie viel über den Kampf um Berlin im Jahre 1945 gelernt, deshalb war sie verwundert, dass es hier noch so viele schöne alte Gebäude gab. Einige davon wirkten allerdings wie Pfauen mit Federnausfall. Von diesen Häusern, allesamt zu Kaisers Zeiten erbaut, hatte man in der Nachkriegszeit den Stuck abgeschlagen. Neele war entsetzt gewesen, als sie davon zum ersten Mal gehört hatte. Wie hatte man nur so etwas tun können? Dieses Vorgehen war jedoch nicht als Akt der Barbarei, sondern als ein Beitrag zur schnellen Beseitigung der Kriegsschäden gedacht gewesen. Stucksanierung war aufwendig, so hatte man Neele erklärt, und damit teuer. Also hatte man kurzerhand den Stuckmord mit Prämien für die finanzschwachen Hauseigentümer gefördert. Entstuckungsprämie – scheußliches Wort!

      Der Türöffner der Nummer 24 summte, und Neele betrat das großzügige, mit aufwendigen Schnitzereien verzierte Treppenhaus. Im zweiten Stock erwartete sie eine Frau, deren Alter sie nur schwer einschätzen konnte. Also war sie wohl in den besten Jahren. Sie hatte kurzes, dauergewelltes Haar und wirkte weder langweilig noch altmodisch. Neele gefiel, dass sie offensichtlich nicht den albernen Versuch unternahm, jünger zu wirken, als sie tatsächlich war.

      «Neele, wie schön, dich zu sehen! Auch nach all den Jahren hätte ich dich sofort wiedererkannt», begrüßte Sabine Wilke sie. Dann führte sie Neele in ihr Wohnzimmer.

      Der Raum war auffallend sauber, selbst der helle Teppich war makellos. Und die verschnörkelten Möbel waren mit Häkeldeckchen verziert, auf denen kleine bunte Porzellanfiguren standen.

      Neele kam ohne Umschweife auf ihr Anliegen zu sprechen. «Du hast dich bestimmt schon gefragt, warum ich dich treffen wollte», sagte sie, griff in ihre Tasche, holte ein Foto heraus und reichte es Sabine.

      Die betrachtete das Bild intensiv, bevor sie langsam sagte: «Das ist wirklich sehr aufmerksam von dir.» Sie deutete ein Lächeln an, aber es wirkte traurig. Dann gab sie Neele das Foto zurück.

      «Es wäre schön, wenn du es behalten würdest. Ich dachte, es wäre vielleicht eine nette Erinnerung. Du und meine Mutter, ihr seht so glücklich aus auf dem Foto. Ich wusste ja nicht, dass du so viele Bilder hast …», erwiderte Neele und sah sich im Wohnzimmer um. Überall standen eingerahmte Fotografien.

      «Das ist wirklich sehr aufmerksam von dir», wiederholte Sabine. «Aber das Bild stammt aus einer Zeit, die ich eigentlich aus meiner Erinnerung verbannt habe. Bitte versteh mich nicht falsch, Neele! Ich denke nicht schlecht über deine Mutter, das Gegenteil ist der Fall. Nur, die Umstände, die uns damals zusammengeführt haben, gehörten nicht zu den schönsten meines Lebens. Aber wem sage ich das! Du warst noch klein, als ich deine Mutter kennenlernte. Weißt du noch?»

      Merkwürdig. Neele konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, Sabine Wilke jemals zuvor getroffen zu haben. Vor ihrem inneren Auge sah sie nur immer wieder das Foto von Sabine und ihrer Mutter auf deren Kommode stehen. Einige Jahre war es nun schon her, dass Neele ihre Mutter gefragt hatte, wer die fremde Frau auf dem Bild sei. Doch Helena van Lenk hatte nur unwirsch Sabines Namen genannt und kurz erklärt, es handele sich um eine alte Bekannte. Sie hatte Neele weder gefragt, ob sie sich an Sabines Besuche erinnern könne, noch etwas über gemeinsame Erlebnisse erzählt. Über die Vergangenheit verlor ihre Mutter niemals ein Wort.

      Während des Wochenendes an der Ostsee hatte Neele an ihre Heimat denken müssen. Im Traum war sie durch das Haus ihrer Mutter gelaufen und vor der Kommode mit den Fotos stehen geblieben. Plötzlich war sie hochgeschreckt. Der Name! Auf einmal hatte sie gewusst, woher sie den Namen kannte, den sie vor Kurzem in den Akten gelesen hatte: Valentin Faber. So hatte das Unfallopfer geheißen, und Sabine Faber lautete der Name der unbekannten Freundin ihrer Mutter auf dem Foto. Das war unheimlich. Neele hatte sich in dieser Nacht fest vorgenommen herauszufinden, ob es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Personen gab. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass ihre Mutter ihr darüber bestimmt nichts sagen würde. Also hatte sie sich entschlossen, der Sache selbst auf den Grund zu gehen.

      Dennoch hatte sie noch am Abend ihrer Rückkehr ihre Mutter angerufen. Sie war ihr so lange auf die Nerven gegangen, bis Helena van Lenk ärgerlich geworden war. Ungehalten hatte die irgendwann erzählt, dass Sabine nach dem Unfalltod ihres Mannes einen alten Bekannten namens Robert Wilke, der schon seit Jahren hoffnungslos in sie verliebt gewesen war, geheiratet hatte und seitdem seinen Namen trug. Kaum hatte sie aufgelegt, hatte Neele zum Telefonbuch gegriffen.

      «Sabine, ich möchte mich bei dir dafür entschuldigen, was deinem Mann damals passiert ist», sagte sie nun.

      «Wie bitte?», fragte Sabine überrascht. «Neele, die Sippenhaft ist abgeschafft. Wenngleich es den Anschein hat, dass wir dazu neigen, viele der hart erkämpften Errungenschaften unserer Zivilisation allzu leichtfertig zur Disposition zu stellen.»

      «Eigentlich weiß ich das», heuchelte Neele und fühlte sich dabei ziemlich durchtrieben, «aber es ist nicht ganz das, um was es mir geht.»

      «Um was geht es dir dann?»

      «Ich glaube, ich wollte nicht, dass du meinen Vater als Feigling in Erinnerung behältst, der deinem Mann das Leben nimmt und dann noch nicht einmal den Mut hat, die Konsequenzen dafür zu tragen. Ich bin mir sicher, er hätte gerne mit dir gesprochen.»

      Sabines Gesicht war wie versteinert, hellte sich aber schnell wieder auf. Ihre Gesichtszüge wurden weich, fast zärtlich. «Neele, zu keinem Zeitpunkt habe ich deinen Vater verurteilt! Ich habe ihn nicht als Feigling in Erinnerung. Sei also ganz beruhigt. Ich möchte dir allerdings für die Zukunft noch etwas mit auf den Weg geben. Andere wären vielleicht ob deines doch recht eigensinnigen Gesuchs ziemlich ungehalten. Der Sache nach geht es dir nicht um eine Entschuldigung, sondern um etwas ganz anderes.»

      Neele schluckte.

      «Du möchtest die Witwe um Verständnis für den vermeintlichen Täter bitten! Schon deine Mutter wollte sich für ihren Mann entschuldigen. So entstand ja überhaupt erst unser Kontakt. Wir waren natürlich nicht die besten Freundinnen, das versteht sich von selbst, aber wir unterstützten uns gegenseitig in einer schweren Zeit. Seltsam, nicht wahr? Später verloren wir uns aus den Augen. Vor einigen Jahren habe ich dann erneut geheiratet. Das heißt nicht, dass ­Valentin nicht mehr in meinen Gedanken ist. Ich möchte aber nach vorne blicken und nicht für immer die Fesseln der Vergangenheit spüren.»

      Neele senkte den Blick. «Vermeintlicher Täter? Du meinst also auch, dass mein Vater unschuldig ist?»

      «Ich kenne deinen Vater als sehr aufrichtigen Menschen, und ich denke nicht, dass er dich jemals angelogen hätte.»

      «Wie bitte?»

      «Ich meine das, was mir deine Mutter über ihn erzählt hat. Nichts weiter.» Nervös rang sie ihre Hände.

      «Du stimmst mir also zu, dass man den Fall noch einmal aufrollen müsste?» Neeles Plan schien aufzugehen. Sie wagte sich noch weiter vor. «Vielleicht können wir ja zusammenarbeiten.»

      Sabine Wilkes Gesicht verfinsterte sich. «Nein, das ist überhaupt keine gute Idee! Wir werden niemals zusammenarbeiten. Es gibt nämlich nichts, woran wir zusammenarbeiten könnten.» Sie sprach langsam. «Du solltest nicht nach alten Geistern rufen!»

      «Wenn wir sie gemeinsam rufen und verjagen, können wir beide besser schlafen.»

      «Ich

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