Das Geheimnis der Väter. Daniel Eichenauer
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Neele blätterte weiter. Sie stieß auf den Bericht der Kommissarin Wendlandt, der Frau, die ihren Vater verhaftet hatte. Neele erinnerte sich nur noch vage und mit Abscheu an sie. Die Kommissarin hielt fest, dass der Zeuge seine Angaben bereits vor Ort gemacht habe und sie auf dem Präsidium haargenau wiederholt habe. Seine Aussage sei deshalb von hoher Glaubwürdigkeit. Einen ausschließlich durch Regenglätte verursachten Unfall schloss sie aus, denn man hatte ja das Fahrrad, nicht aber den Fahrer dazu gefunden. Fahrerflucht. Das spräche nach der festen Überzeugung von Frau Wendlandt dafür, dass nicht die Naturgewalten, sondern der flüchtige Fahrradfahrer den Unfall verursacht habe. Als Täter kam für sie nur Hilmar van Lenk, der Eigentümer des Fahrrads, in Betracht. Laut seiner Aussage habe der sich auf einem abendlichen Spaziergang mit seinem Hund befunden, um alleine zu sein.
Neele lächelte. Genau so hatte sie ihren Vater in Erinnerung. Bereits früher hatte sie beiläufig mitbekommen, dass sich so manch einer über diese Marotte ihres Vaters wunderte. Sie selbst hatte dies übrigens auch getan, aber er war nun einmal ihr Vater gewesen.
Der Aussage ihres Vaters maß die Kommissarin keinerlei Bedeutung bei. Hilmar van Lenk hatte für sie unglaubwürdige Angaben gemacht, die den Verdacht gegen ihn nur erhärteten. Eine Schutzbehauptung, wie die Kommissarin formulierte. Als sie zudem über eine Routineanfrage herausgefunden habe, dass er kurz nach dem Unfall in die DDR reisen wollte, sei für sie klar gewesen, dass er sofort in Untersuchungshaft genommen werde müsse.
«Dämliche Kuh!», schnaubte Neele wütend.
Dem Obduktionsbericht des Gerichtsmediziners entnahm sie nur ein einziges nennenswertes Detail: Der Fahrer des Autos, ein Herr Valentin Faber, war mit 1,9 Promille stark alkoholisiert gewesen.
Neele stockte und las den Namen erneut. Valentin Faber. Nie hatten ihre Mutter oder jemand anderes seinen Namen erwähnt. Zum ersten Mal nach Jahren bekam das Opfer eine Identität. Was Valentin Faber wohl für ein Mensch gewesen war? Ob er eine Familie zurückgelassen hatte? Auf eine seltsame Art kam Neele sein Name bekannt vor. Wahrscheinlich verwechsele ich ihn nur mit einem anderen, dachte sie und las weiter. Vielleicht war ihr Vater gar nicht auf die Straße gelaufen, sondern der Autofahrer war aufgrund seines hohen Alkoholpegels von der Straße abgekommen. Warum war die bornierte Kommissarin dieser Möglichkeit nicht nachgegangen? Die Frage, warum das Fahrrad ihres Vaters am Unfallort gefunden worden war, konnte diese Vermutung allerdings auch nicht beantworten.
Sie blätterte weiter. Das Fahrrad war kriminaltechnisch untersucht worden, und laut dem Bericht des Gutachters war es vom Auto des Opfers zermalmt worden. Es schien also alles ziemlich eindeutig.
Neele schlug die Akte zu und legte sie beiseite. Sie wollte einfach nicht glauben, dass ihr Vater sie belogen hatte. Aber war das so abwegig? Hatten ihre Freunde nicht recht, wenn sie meinten, sie sei damals ein kleines Mädchen gewesen, das ihren Vater vergötterte? Tat sie das nicht bis heute? Sie seufzte. Ein Kind versuchte man zu trösten, und sie war damals ein Kind gewesen. Wäre es nicht seltsam, wenn sich ihr Vater anders verhalten hätte? Er hatte bei seiner Verhaftung wohl kaum ein Gespräch über die Gründe seiner Tat mit ihr führen wollen und können. Trotzdem wehrte sich Neele mit aller Kraft gegen den Gedanken, dass ihr Vater sie mit einer Lüge hatte schützen wollen. Aber warum sagte ihre Mutter ihr nicht die Wahrheit – so wie sie hier in der Akte stand? Neeles Gedanken kreisten und kreisten. Langsam nickte sie ein.
Neele schrak hoch, als das Telefon klingelte.
«Ich denke, wir sollten uns am Sonntag treffen. Was hältst du davon?»
«Hat die Kellnerin keine Zeit?», fragte Neele grantig. Sie hasste es, wenn sie vom Telefon geweckt wurde. Wie spät war es eigentlich?
«Die ist am Samstag dran.» Rainer lachte, dann wurde er ernster. «Es gibt etwas, über das ich mit dir reden muss.»
«Ich höre aufmerksam zu», erwiderte Neele trocken. Die Erwähnung der Kellnerin ärgerte sie.
«Manche Dinge kann man nicht am Telefon besprechen. Keine Sorge, es hat etwas mit dem Fall zu tun! Mir ist etwas aufgefallen.»
«Ich bin am Sonntag nicht in Berlin.» Sie zögerte. «Wenn das jetzt ein Trick ist …»
«Ernsthaft, es geht wirklich um den Fall deines Vaters! Dann sehen wir uns am Dienstag. Um acht am Winterfeldtplatz. Bis dann!» Rainer legte auf.
Verdutzt sah Neele das Telefon an.
Jakob Chrumm
Endlich rückte er näher, der Tag, dem ich schon sehnlichst entgegenfieberte. Ein Monat war nun vergangen, seitdem ich Neele nach zwanzig Jahren wiedergetroffen hatte, und dieses Wiedersehen hatte mein Leben gründlich durcheinandergebracht. Es quälte mich, dass wir uns seit dem Abend in der «Hafenbar» nicht mehr gesehen hatten. Es quälte mich, dass wir uns regelmäßig E-Mails schrieben, aber nie eine Verabredung zustande kam. Immer dieselben Ausreden: die Arbeit, zu viel zu tun … Vor allem aber quälte mich der Gedanke, einem großen Irrtum aufgesessen zu sein. Hatte ich mich in etwas verrannt? Hatte ich etwas missverstanden? Ich wollte ihren Erklärungen so gerne glauben, aber warum konnte ich mir Zeit für sie nehmen, sie sich aber umgekehrt nicht für mich? Und was sollte ich von der wirklich großen Verabredung halten, die wir vor einer Woche getroffen hatten? Wir wollten das kommende Wochenende gemeinsam an der Ostsee verbringen. Natürlich war diese Idee zunächst im Spaß geboren, schließlich hatten wir uns gerade erst nach vielen Jahren wiedergetroffen. Im Verlauf der Zeit war sie aber zu einem festen Vorhaben mutiert. Trotz allem ließ mich die Befürchtung nicht los, dass Neele es nicht ernst meinen könnte. Nicht, dass sich diese Vermutung auf Tatsachen gründete, nein, sie nahm meine Gefühle ganz ohne Grund in Beschlag. Ihre Kraft schöpfte sie aus meiner Erfahrung, dass sich meine Wünsche bisher noch nie erfüllt hatten.
Den gesamten Freitag war ich hin- und hergerissen zwischen Euphorie und tiefer Traurigkeit. Vor allem aber war ich erschöpft. Erschöpft davon, immerzu von überschwänglicher Freude in tiefe Betrübtheit zu fallen.
Meine Zweifel erwiesen sich als grundlos, als Neele tatsächlich ihr baldiges Kommen ankündigte. Dennoch beutelte mich meine Angst, während ich auf Neele wartete. Das ist reine Hinhaltetaktik. Sieh dich doch an, wie lächerlich du bist!, sagte eine innere Stimme zu mir. Ich bäumte mich auf. Warum sollte Neele so etwas tun? Das ist deine gerechte Strafe! Woher nimmst du das Recht, glücklich sein zu wollen? Glück muss man sich erarbeiten! Und was hast du bisher dafür getan?
Mehrmals hatte ich schon gedacht, Neeles Auto gesehen zu haben, als ich vor meiner Wohnung auf sie wartete. Aber die Wagen hatten ihrem auf den zweiten Blick nicht einmal farblich geglichen. Siehst du!, höhnte die innere Stimme, als ich mich wieder einmal getäuscht hatte. Doch dann bog Neele tatsächlich um die Ecke.
«Siehst du!», äffte ich meine zweifelnde Stimme laut lachend nach und zeigte ihr eine lange Nase. Sie war besiegt! Hoffentlich ein für alle Mal. Vor mir lag eine wunderbare Zukunft mit einer wundervollen Frau. Überglücklich stieg ich zu Neele ins Auto und stellte mir vor, wie mein innerer Widersacher allein auf dem Bürgersteig zurückblieb. Auf dass es ihm eine Lehre sein mochte! Mich umzudrehen, um mich zu vergewissern, dass ich ihn wirklich abgehängt hatte, traute ich mich allerdings nicht. Zu groß wäre die Enttäuschung gewesen, wenn ich mich getäuscht hätte.
Ich freute mich darauf, das ganze Wochenende auf einem Schloss zu verbringen. Bei der Ankunft erwartete uns bereits die mecklenburgische Dunkelheit. Aber sie vermochte es nicht, die Schönheit des abgeschiedenen Ortes unter ihrem langen schwarzen Mantel