Der König vom Feuerland. Horst Bosetzky
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Читать онлайн книгу Der König vom Feuerland - Horst Bosetzky страница 4
Der Winter war lang, und es gab für einen Zimmermann wenig zu tun, und so freute sich Johann George Borsig, als er Anfang Februar von Meister Ihle den Auftrag erhielt, zu einer kleinen, aber sehr dringenden Reparatur ins Haus des Geheimen Regierungsraths Ludger Krauthausen zu eilen. Der Sturm in der gestrigen Nacht habe dessen altersschwachen Schornstein einstürzen lassen, und dabei seien nicht nur die Dachziegel zerschlagen worden, sondern auch einige morsche, weil von Würmern zerfressene Sparren zu Bruch gegangen.
Es war Sonntag, und so fragte August, ob er den Vater begleiten dürfe. Es wurde ihm zugestanden, und so machten sich beide gleich nach dem Frühstück auf den Weg. Es war die Schweidnitzer Vorstadt zu durchqueren, bis sie den Stadtgraben erreichten. Dem folgten sie Richtung Westen, um nach knapp einem Kilometer den Königsplatz zu erreichen, von dem die Nicolaistraße abging. Hier, zwischen Barbara-Kirche und Residenz-Theater, hatte Krauthausen, der aus den preußischen Rheinprovinzen an die Oder versetzt worden war, Quartier genommen. Gerade hatten sie ihr Ziel erreicht, da kam auch Meister Ihle mit seinem Pferdefuhrwerk, und sie luden erst einmal alle Hölzer ab, die sie brauchten, um die maroden Teile zu ersetzen.
»Dann wünsche ich frohes Schaffen!«, sagte Ihle und machte sich wieder auf den Heimweg, um seine Sonntagsruhe zu genießen. Sein Polier würde es schon richten.
Das Mädchen öffnete ihnen, nachdem sie am Klingelzug gerissen hatten, und führte sie auf den Dachboden hinauf.
Bis zum Mittagessen hatten Vater und Sohn alles sauber ausgebessert, so dass der Dachdecker gerufen werden konnte. Als sie wieder herabgestiegen waren und auf dem Weg zur Straße waren, ging im Hausflur unten eine Tür auf, und eine weißgekleidete Gestalt erschien.
»Ein Gespenst!«, rief August Borsig und wich im Reflex zurück.
Doch wer ihnen da den Weg verstellte, war kein anderer als Ludger Krauthausen, eine der berühmten rheinischen Frohnaturen. Untersetzt und schwarzhaarig war er, was nur daran liegen konnte, dass vor rund zweitausend Jahren ein römischer Legionär ein germanisches Mädchen geschwängert hatte. Um sich ein bisschen Heimat nach Schlesien zu holen, wollte er am Fastnachtssonntag einen närrischen Maskenball feiern.
»Und zu dieser Maskerade gehe ich als Kaiser Nero«, erklärte er den Borsigs. »Meine Frau hat mir gerade meine Toga abgesteckt.« Er bemerkte die fragenden Augen des Jungen. »Du weißt nicht, wer Nero war?«
»Doch …« August Borsig zögerte mit einer Erläuterung, da er sie als unschicklich empfand. Aber der Geheime Rath schien ja Spaß zu verstehen, und so sagte er schließlich, dass Nero der im letzten Jahr verstorbene Hund des Zimmermeisters Ihle gewesen sei.
Krauthausen lachte und nahm sich die Zeit, dem Jungen einen kleinen Vortrag zu halten. »Nero kam aus der julisch-claudischen Dynastie und war von 54 bis 68 nach Christi Geburt Kaiser des Römischen Reiches. Er sah sich als großer Dichter und Sänger, und kurz vor seinem Tod soll er immer wieder ausgerufen haben: ›Welch Künstler geht mit mir zugrunde!‹«
Kaiser sein, Herr und Herrscher über viele Menschen, das faszinierte August Borsig. Nicht immer nur Befehle entgegennehmen – ob nun vom Vater oder von Mistek –, sondern tun und lassen, was man selbst wollte. Von nun an träumte er immer wieder, einmal Herr zu sein.
Den Borsigs selbst verging die Lust zum Feiern, denn aus Nieder-Pontwitz kam die Nachricht, dass die Oma im Alter von 68 Jahren unerwartet verstorben war. Die Großeltern hießen noch Burzik, George und Johanna Burzik, und erst als ihr Sohn Johann George nach Breslau gegangen und Susanna Catharina Werner geehelicht hatte, war durch einen Schreibfehler des Standesbeamten aus Burzik Borsig geworden. Manche vermuteten auch, er habe den Namen still und heimlich eindeutschen wollen oder aber Borsig für wohlklingender gehalten als Burzik.
Von Breslau nach Nieder-Pontwitz, das im Fürstenthum Oels gelegen war, brauchten sie bei bitterer Kälte und auf teils noch vereisten Straßen mit der Kutsche, die sie sich geliehen hatten, mehr als drei Stunden, und sie kamen gerade vor der Dorfkirche an, als der Pfarrer zur Rede ansetzte.
»Wir sind traurig, Herr, denn wir müssen für immer Abschied nehmen von einem Menschen, der uns so vertraut war wie niemand sonst. Mit seinem Tod geben wir auch einen Teil von uns selbst dahin.«
Da schossen dem Jungen die Tränen in die Augen. Zwar war in den Tagen der Napoleonischen Kriege viel vom Sterben die Rede gewesen, aber immer hatte es nur die anderen getroffen, und es war Mitleid gewesen, aber nicht Leid. Seine Großmutter war auch einmal so jung gewesen wie er, ein gesundes und kraftvolles Mädchen … Nun lag sie im Sarg, und auch er würde am Ende seiner Tage in einem solchen Sarg liegen, während die anderen trauerten. In diesen Sekunden begriff August Borsig, dass auch er sterblich war, und das war für ihn eine furchtbare Erkenntnis. Zugleich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass es Menschen gab, die unsterblich waren, Friedrich II. von Preußen oder dieser Kaiser Nero beispielsweise. Nur wer Großes leistete, konnte damit rechnen, unsterblich zu werden.
Der Rest des Februars und der März 1817 verliefen ohne Ereignisse, die sich im Gedächtnis der Jungen festgesetzt hätten, und das Gleichmaß der Tage wurde erst mit den Ostertagen beendet. Der Ostersonntag fiel in diesem Jahr auf den 6. April, und am Karfreitag kam seine Tante Anna, die fünf Jahre jüngere Schwester seines Vaters, für ein paar Tage zu Besuch. Sie war in Trebnitz bei einem hohen Offizier in Stellung. Anna Borsig galt als etwas verschroben, »nerrsch«, wie die Schlesier sagten, und glaubte an gute wie an böse Geister. Schon am ersten Abend erschreckte sie die Kinder mit ihren Erzählungen.
Der Vater musterte seine Schwester. »Nu, mein Madla, du siehst mir gar nicht gut aus. So blass und dünne.«
»Ja, da magst du recht haben, Johann, das kommt von diesem dreimal verfluchten Czaja!«
Die Breslauer staunten, denn Joachim Czaja, ihr Verlobter, ein Kürassier aus Steinau an der Oder, war schon seit über zwanzig Jahren tot. Er war kurz vor der geplanten Heirat vom Pferd gefallen und hatte sich den Hals gebrochen.
»Trauerst du noch immer um ihn?«, fragte Susanna Borsig, ihre Schwägerin.
»Nein, das nicht. Aber er ist ein Nachzehrer.«
Was das war, wusste August: ein Toter, der unter der Erde liegt oder sitzt und seinen Hinterbliebenen die Lebenskraft absaugt. Im Gegensatz zum Vampir kam er niemals aus seinem Grab heraus.
»Das mit dem Nachzehrer, das ist doch Mumpitz!«, rief der Vater.
»Das ist es nicht!«, beharrte die Tante. »Als er beerdigt worden ist, haben wir vergessen, etwas auf seine Brust zu legen, das ihn gebannt hätte, ein Messer oder eine Schere.«
Als Anna Borsig am Ostersonnabend mit ihrem Neffen durch die Breslauer Innenstadt schlenderte, entdeckte sie in der Nähe der St.-Elisabeth-Kirche die Stube einer Wahrsagerin.
»Das kann ich mir nicht entgehen lassen, mein Jingla!«, rief sie. »Und du kommst mit!«
»Nein, ich …«
Sie zog ihn mit sich zur Haustür. »Sei kein Plotsch!«
Ein Plotsch, ein Dummkopf, wollte er nicht sein, also ging er mit. Auch damit er seinem Freund Walter Rawitsch etwas zu erzählen hatte. Die Wahrsagerin erinnerte ihn stark an die Hexe aus Hänsel und Gretel. Er begann sich zu fürchten. Seine Tante aber plauderte ganz unbefangen mit ihr, und so widerstand er dem Impuls davonzulaufen.
»Mein