Der König vom Feuerland. Horst Bosetzky
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»Ich sehe eine Menge … Du bist ein Liebling der Götter, hoch sollst du steigen – aber mit einem Schlag kann alles aus sein.«
Schien es in Breslau, als würde die Welt auf ewig bleiben, wie sie gerade war, so geschah anderswo vieles, was sie völlig verändern sollte. Man brauchte das Eisen nicht mehr, um Kanonenrohre zu gießen, es konnte zu anderem verwendet werden. Es begann die große Stunde der Tüftler und Erfinder. Auch bildete sich – vor allem in England – ein Menschentyp heraus, der Neues schaffen wollte und viel damit verdiente, dass er andere für sich arbeiten ließ: der moderne Unternehmer. Erfüllt von der puritanischen Idee, dass nur harte Arbeit Gott gefiel, man aber das verdiente Geld nicht verprassen durfte – denn jede Lust, insbesondere die des Fleisches, war Sünde –, häuften diese Männer so viel Kapital an, dass sie neue Unternehmen gründen und neue Märkte erobern konnten.
John Wilkinson, 1728–1808, genannt Iron Mad Wilkinson, der aus einer Familie von Eisenhüttenleuten kam, baute 1747 in Lancashire seinen ersten Hochofen und erfand eine Präzisionsbohrmaschine zum Ausbohren von Kanonenrohren. Obwohl ihn ganz England auslachte, schuf er das erste Schiff aus Eisen. Er war so besessen von diesem Werkstoff, dass er sich sogar in einem gusseisernen Sarg begraben ließ.
Benjamin Huntsman, 1704–1776, von Hause aus Uhrmacher, experimentierte so lange, bis er flüssigen Stahl, Gussstahl, herstellen konnte.
James Watt, 1736–1819, gelernter Mechaniker, verbesserte den Wirkungsgrad der alten Wasserhebe-Dampfmaschinen in den englischen Gruben und machte sie zum Prototyp der modernen Maschine.
Aber auch in Deutschland begann es sich zu regen: Friedrich Krupp, 1787–1826, gründete 1810 mit dem Geld, das er von seiner Großmutter geerbt hatte, die »Firma Friedrich Krupp zur Verfertigung des Englischen Gußstahls und aller daraus resultierenden Fabrikationen«.
Eine Ahnung von dieser modernen Welt sollte August Borsig bekommen, als er Meister Ihle und seinen Vater bei einer Reise nach Tarnowitz begleiten durfte. Das lag 170 Kilometer südöstlich von Breslau, nahe an der Grenze zum sogenannten Congresspolen, das Teil des russischen Zarenreichs geworden war. Sie waren, da Ihles Fuhrwerk mit einigen Ersatzteilen schwer beladen war, mehrere Tage unterwegs. Mit der Schule nahm das keiner so genau, und wenn August ein paar Stunden versäumte, machte das nichts.
Der Junge hatte gestaunt. »Was hat denn ein Zimmermann mit einer Dampfmaschine zu tun? Die ist doch aus Eisen – was soll er da reparieren?«
Die beiden Männer erklärten ihm die Sache: Beim Bau der ersten Dampfmaschinen taten sich Zimmerleute, Schmiede, Schlosser, Eisengießer und Feinmechaniker zusammen, und bei ihren Konstruktionen war noch viel Holz im Spiel. So bestand der – neben dem Dampfzylinder – wichtigste Teil der Maschine, der unförmige und viele Zentner schwere Schwingbaum, aus Eichenholz, das heißt aus mehreren splitterfesten Balken, die in sauberer Zimmermannsarbeit aneinandergefügt worden waren. Diese Arbeit hatte Ihle vor Jahren auf der Friedrichsgrube in Tarnowitz für einen gewissen Friedrich Wilhelm Holtzhagen ausgeführt, dem inzwischen die Aufsicht über alle Dampfmaschinen der Berg- und Hüttenwerke Ober- und Niederschlesiens übertragen worden war.
»Jetzt sind einige Balken zu erneuern, und da hat uns Holtzhagen nach Tarnowitz gerufen«, schloss Ihle.
Als August Borsig vor der ersten Kolbendampfmaschine seines Lebens stand, empfand er sie im ersten Augenblick als ebenso geheimnisvoll wie bedrohlich. Klein kam er sich vor und so verletzlich wie eine Ameise, die auf den Amboss eines Schmiedes geklettert war. Langsam aber begriff er, dass sie Menschenwerk war und von Menschen kontrolliert wurde. Was ihn am meisten beeindruckte, waren die ungeheuren Kräfte, die mit dieser Maschine erzeugt und in Arbeit umgesetzt wurden. Dabei war alles ganz einfach: Man nahm Kohle und erhitzte damit das Wasser so weit, dass es zu Dampf wurde. Und in diesem Dampf – wurde er gebändigt und in richtige Bahnen gelenkt – steckte mehr Energie, als Hunderte von Menschen und Dutzende von Pferden aufzubringen vermochten. Holz und Eisen gehörten auch noch dazu, eine Menge Handwerker und natürlich einer, der sich das alles ausdachte und auf große Bögen zeichnete. Genau so hatte es ihnen Mistek beim Bau eines Hauses erklärt. So etwas zu können steckte im Menschen, wie es in den Bienen steckte, sich ihre Waben und Stöcke zu bauen. Im Menschen? Nein, nicht in allen, nur in einigen.
Dass er zu diesen wenigen Menschen gehörte, war August Borsig an diesem Tag von Tarnowitz zu keiner Sekunde bewusst. Er sah in diesen Jahren nur alles, nahm nur auf, was ihm begegnete, und speicherte es irgendwo im Gedächtnis, ohne dass das eine mit dem anderen zusammenkam. Seine Großmutter hatte immer gesagt: »Mit den Augen kann man stehlen« – also stahl er ununterbrochen. Er hatte jedoch keine Absicht, dies irgendwann einmal zu benutzen – es war der reine Spaß am Stehlen, der ihn trieb.
Nun gut, manchmal kramte er etwas hervor, wenn in der Schule nach bestimmten Sachen gefragt wurde. So wollte Mistek kurz vor den Sommerferien wissen, wo die Oder entspringt.
»In Polen!«, riefen alle.
»Falsch.«
»Im Kaiserthum Oesterreich«, sagte August Borsig. Das hatte ihm Meister Ihle auf der Fahrt nach Tarnowitz erklärt.
»Wieso entspringt die?«, fragte Walter Rawitsch. »Die Oder ist doch kein Sträfling.«
»Rawitsch, die Finger!« Der Lehrer holte seine Haselrute hervor.
Augusts Freund nahm das Züchtigungsritual klaglos hin. Seine Rache bestand darin, dass er Mistek an einem der nächsten Tage scheinbar arglos fragte, ob sein Name vom Englischen mistake – Fehler – herkäme. Darauf hatte ihn sein Vater gebracht.
Mistek blickte böse, entschloss sich dann aber, nicht aus der Haut zu fahren, sondern die Sache mit Humor zu nehmen. »Richtig! Ich bin in London geboren worden und war Hauslehrer der englischen Prinzen. Als ich nach Breslau gekommen bin, haben sie den Namen Mistake dann eingedeutscht in Mistek.« Dass viele seiner ehemaligen Schüler ihn Miststück nannten, wusste er nicht.
Endlich war die Schule aus. Auf dem Nachhauseweg kamen August und Walter an einer Glaserei vorbei, die sich nebenbei darauf spezialisiert hatte, Ölbilder einzurahmen und zum Verkauf auszustellen. Diese Gemälde wurden ihr von berufsmäßigen Kunstmalern, aber auch Amateuren zugeliefert. Die Auswahl an Motiven war nicht eben groß. Da war die Oder und nochmals die Oder, dann gab es röhrende Hirsche und balzende Auerhähne im schlesischen Bergland und schließlich das Breslauer Rathaus und die Naschmarktseite des Ringes. Das alles interessierte August Borsig nur mäßig, ein Bild aber beschäftigte ihn Tag und Nacht und tauchte sogar in seinen Träumen auf: der Anblick eines Südsee-Atolls. Ein Schoner ankerte unter üppigen Palmen. Bougainville vor Tahiti stand auf dem Schildchen, das am Rahmen klebte.
»Palmen!«, rief Borsig. »Ich liebe Palmen über alles!«
»Dann kauf dir doch den Schinken, und häng ihn dir übers Bett«, riet ihm Walter Rawitsch.
»Das würde ich ja gern, aber was das kostet! Woher soll ich das Geld nehmen?« Von seinen Eltern bekam er kein Geld dafür, und sich das Palmenbild zum Geburtstag oder zu Weihnachten zu wünschen hatte auch keinen Zweck, da gab es zum Geschenk immer nützliche Sachen.
Nach einigem Hin und Her trauten sie sich in den Laden, um mit dem Glasermeister zu handeln, doch der ließ sich nicht erweichen und blieb bei einem Preis, der den Jungen astronomisch hoch erschien. Auch wenn er jeden Groschen sparte, den er ab und an von Meister Ihle und seinem Vater bekam, nachdem er ihnen bei der Arbeit geholfen hatte, er hätte lange Monate gebraucht, bis