Wer die Lüge kennt. Beate Vera
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Jeanny hatte Greta unbedingt zeigen wollen, was sie dem dämlichen Schnösel abgenommen hatte, als der auf einer Bahnhofstoilette am Südkreuz mit ihr beschäftigt gewesen war. Sie hatte Glück gehabt, der Idiot hatte wenigstens einen passablen Musikgeschmack. Auf seinem Smartphone, das sie aus seiner Jackentasche gefischt hatte, waren ganz gute Titel, aber auch eine Menge Songs, die sie nicht kannte. Sie hatte angenommen, dass Greta ihr etwas dazu sagen könnte. Die war schon sehr alt, bestimmt vierzig oder so. Greta war immer am Singen. Die anderen Frauen im Kiez erzählten sich, dass sie mal was mit Musik zu tun, viele Jahre im Ausland gelebt und sogar eine Familie gehabt habe. Backgroundsängerin sei sie gewesen, sogar für die irische Rockband U2, raunte man. Greta selbst hatte nie über ihre Vergangenheit gesprochen. Aber mit Musik hatte sie sich ausgekannt.
Jeanny lehnte sich gegen einen zurückgelassenen Traktorreifen auf einem bewachsenen Streifen inmitten des großen Felds kurz hinter dem Berliner Stadtrand. Sie hatte Thomas angerufen. Der würde wissen, was zu tun war. Sie selbst wollte auf keinen Fall mit den Bullen reden, das hatte sie ihm auch deutlich gesagt. Dann war sie einfach losgelaufen, durch die Hochhaussiedlung, die Osdorfer Straße entlang, dann die Ausfallstraße hinaus aus Berlin. Bei dem großen Feld war sie abgebogen und dem Trampelpfad entlang des Grünstreifens gefolgt, bis sich die Tränen ihren Lauf gebahnt hatten. Nun kauerte sie an dem Reifen und weinte hemmungslos.
Jeanny hatte immer genau gewusst, wo sie ihre ältere Freundin finden konnte, und war überrascht gewesen, sie an diesem Morgen nicht an der üblichen Stelle vor dem Supermarkt an der Stadtgrenze anzutreffen. Von den Mitarbeitern dort hatte Greta häufig kurz vor Ladenöffnung angestoßenes Obst oder ein Stück Gebäck oder Brot vom Vortag bekommen. Erst nach einer Stunde vergeblicher Suche an den anderen Ecken und Hauseingängen in der Thermometersiedlung und der unmittelbaren Umgebung, an denen sich Greta üblicherweise tagsüber aufgehalten hatte, war Jeanny zur Unterführung in der Fürstenstraße gegangen. Greta hatte sich dorthin sonst immer erst abends zurückgezogen, um ihre Fotos anzuschauen. Jeden Abend um dieselbe Zeit an derselben Stelle. Im Winter hatte sie im spärlichen Licht ihres Feuerzeugs kaum etwas sehen können, aber sie war trotzdem jeden Abend die Fotos durchgegangen, leise vor sich hin murmelnd. Wenn sie fertig gewesen war, hatte sie ein Lied angestimmt, immer dasselbe. Ihre Altstimme war so klar gewesen, und Jeanny war ein jedes Mal fast zu Tränen gerührt. Es war ein Schlaflied aus einem englischen Kinderfilm der späten Sechzigerjahre, wie Greta Jeanny einmal erklärt hatte. Es handelte vom Vergessen seiner Sorgen:
A gentle breeze from Hushabye Mountain
Softly blows o’er Lullaby Bay.
It fills the sails of boats that are waiting,
Waiting to sail your worries away …
Jeanny ließ ihren Blick über das weite Land und den wolkenschweren Himmel schweifen. Hier war alles so friedlich und ruhig. Nichts ließ einen an diesem Ort von der Schlechtigkeit der Welt ahnen, die Natur war so wunderschön, selbst im kargen Winter. Jeanny wäre gern einfach hiergeblieben, doch die Jahre auf der Straße hatten sie gelehrt, die Kälte nicht zu unterschätzen. Erst machte sie einen müde, dann tötete sie einen. Alles war gegen einen, wenn man nicht auf der Hut war. Also wischte sich Jeanny die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Heute wollte sie nicht sterben. Heute nicht.
Diese wundervolle Frau hat mich ausschlafen lassen, war Martin Glanders erster Gedanke, als sein angenehmer postkoitaler Traum am späten Vormittag rüde durch das Klingeln seines Handys beendet wurde. Er setzte sich im Bett auf und strich sich durchs straßenköterblonde Haar. Das Handy gab die unverwechselbare Titelmelodie der TV-Serie Die Profis wieder. Glander war vermutlich der einzige Handybesitzer, der seinen Klingelton noch nie gewechselt hatte. Die beiden MI5-Agenten Bodie und Doyle waren in den frühen Achtzigern die Helden seiner Jugend gewesen, er hatte keine Folge versäumt und griff immer noch gerne zu den DVDs der Serie, die er wie seinen Augapfel hütete.
»Glander«, meldete er sich.
»Hallo, Martin! Hier ist Thomas, Thomas Hartmann.«
Thomas und Sabine Hartmann wohnten ein paar Querstraßen entfernt von ihm und Lea im Eifelviertel. Beide waren Chemiker und besaßen eine wilde Mischlingstöle namens Bismut mit einer diesem chemischen Element entsprechenden Fellfarbe und ausgeprägt diamagnetischen Reaktionen auf jegliche Leitungsversuche ihrer Besitzer. Lea war locker mit den Hartmanns befreundet. Als Hundebesitzer kannte man einander im Viertel, und Bismut benahm sich nur, wenn Talisker in der Nähe war. Lea und Glander waren dem Ehepaar vor vier Wochen zufällig im »Loch Ness« begegnet, einem Pub in Lichterfelde West, zu dessen Stammgästen auch Glander gehörte, seit er zu Lea gezogen war. Eine umfangreiche Auswahl an exzellenten Malts und ein unglaublich gutes Stout aus einer der ältesten Brauereien Schottlands übten auf ihn keine geringe Anziehungskraft aus. Es war ein kurzweiliger Abend gewesen, und Glander erinnerte sich an die Schilderungen der Hartmanns über ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten. Ihr Engagement hatte ihn stark beeindruckt. Sich den trostlosen Seiten der Gesellschaft zu stellen war nicht einfach, das wusste er selbst aus zwanzig Dienstjahren beim Berliner Landeskriminalamt zur Genüge. Und auch die Fälle, die er übernahm, seitdem er ausgestiegen war und sich als privater Ermittler selbstständig gemacht hatte, waren in der Regel keine fröhlichen Geschichten.
»Hallo, Thomas! Was kann ich für dich tun?«
»Ich möchte dich engagieren. Du sollst einen Mord aufklären. Eigentlich zwei, wie ich annehme. Man hat heute Morgen schon wieder eine obdachlose Frau in unserem Viertel tot aufgefunden. Die Polizei tut gar nichts, die scheint das überhaupt nicht zu interessieren.«
Glander war perplex. »Thomas, mach mal halblang. Auch wenn ich selber ausgestiegen bin, kann ich dir versichern, dass die Polizei jedes Tötungsdelikt ernst nimmt.«
Hartmanns Entrüstung war selbst am Telefon zu spüren, ebenso, dass er sich zwang, ruhig zu bleiben. »Martin, dem leitenden Hauptkommissar geht das komplett am Allerwertesten vorbei. Der stand nur gelangweilt in der Gegend rum. Für den ist der Fall doch schon klar: Irgendein Penner vergeht sich an den verwahrlosten Frauen, bringt sie um und tut der Gesellschaft damit zugleich einen Gefallen. Zeugen gibt es keine, also wird der Fall bald ungelöst zu den Akten gelegt.«
Glander schüttelte den Kopf. Morde an Obdachlosen aufzuklären war schwierig, das wusste er. »Wie heißt denn der leitende Beamte?« Vielleicht könnte er ja einmal mit dem reden und sich unverfänglich informieren. Er würde ihn mit großer Wahrscheinlichkeit kennen, so lange war es noch nicht her, dass er den Dienst bei der Kripo quittiert hatte.
»Prinz, Kriminalhauptkommissar Prinz«, antwortete Hartmann in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, was er von dem Kripobeamten hielt.
Auf Glanders Gesicht breitete sich ein wölfisches Grinsen aus. Ex-Kollege Prinz war mit Abstand der ungeeignetste Beamte, dem man die Leitung dieser Ermittlungen hätte übertragen können. Eigentlich sollte man dem überhaupt keine Ermittlungen übertragen, der wäre nicht in der Lage, den Weg seiner eigenen Füße aus den Socken heraus zu ermitteln, das war allgemein bekannt. Glander und er waren in den letzten Jahren regelmäßig aneinandergeraten, und in der Regel hatte Prinz dabei den Kürzeren gezogen. Ausnahmslos jeder, der mit Prinz zu tun bekam, stellte sich früher oder später zwei Fragen: Wie war dieser Mann an seinen Job gekommen – und wie schaffte er es, ihn zu behalten? Thomas Hartmanns Eindruck trog also kein bisschen. Bei Mord und anderen Tötungsdelikten war unmittelbares Handeln notwendig. Fanden sich innerhalb der ersten 48 Stunden nach solch einer Tat keine Hinweise oder Spuren, wurde die Arbeit der Mordkommissionen des Berliner LKA 1 zäh.
Kriminalhauptkommissar