Wer die Lüge kennt. Beate Vera
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Fraser hatte Lea nicht vergessen können und sich schon vor vielen Jahren eingestehen müssen, dass ihm das niemals gelänge. Es war Zeit, mit der Vergangenheit aufzuräumen. Er musste Lea zeigen, dass sie endlich alles, was gewesen war, überwinden mussten. Connor Fraser, Glasgows erfolgreichster Kriminalermittler und seit vergangenem Jahr Träger der George Medal – er hatte sich zwischen eine Zeugin und die für sie bestimmte Kugel geworfen und dafür die zweithöchste zivile Auszeichnung des Vereinigten Königreichs und des Commonwealth erhalten –, lehnte sich zufrieden in die Polster des Daimlers zurück. Die Zeit war reif, Lea zurückzuholen.
Thomas Hartmann hatte glücklicherweise keine Ahnung, wie recht er mit seiner Einschätzung von Kriminalhauptkommissar Rolf Prinz hatte. Das Spurensichern, der Abtransport des Leichnams, die Befragung der Anwohner – all das nahm eine Menge Zeit in Anspruch, und so stand Prinz noch gegen Mittag am Fundort der Leiche von Greta Langner herum und verkniff sich sein Gähnen nicht mehr. Lichterfelde Süd – das war nach Prinz’ Meinung der Arsch der Welt, nur noch übertroffen von Rudow und dem ganzen Ostteil der Hauptstadt. Als gebürtigem Reinickendorfer, der schon seit drei Jahrzehnten in Charlottenburg lebte, missfiel ihm jede Gegend von Berlin, die südlich des Kurfürstendamms und östlich des Schäfersees lag. Schon das an Charlottenburg grenzende Moabit war indiskutabel, bestenfalls ein paar Ecken direkt an der Spree waren seiner Ansicht nach noch bewohnbar.
Jenseits der Bahntrasse vor Prinz lag ein sogenannter sozialer Brennpunkt, eine dieser Wohnsiloanlagen aus den Siebzigern. Diesseits der Trasse zog sich eine Reihe von Schrebergärten entlang, denen gegenüber eine Reihe eklektischer Ein- und Mehrfamilienhäuser stand, für deren optische Einheitlichkeit sich das Bauamt bei der Errichtung offensichtlich nicht interessiert hatte. Da hatte jeder bauen können, wie er wollte. Prinz wusste, dass sich am Ende der Fürstenstraße ein Stadtrandbahnhof befand und kurz dahinter Brandenburg begann. Grundgütiger, hier wollte man wahrlich nicht einmal seinen Hund begraben!
Sein Assistent Harald Fellner trat an ihn heran. »Rolf, wir haben gar nichts. Niemand hat was gesehen, niemand hat was gehört. Die Tote war den Anwohnern durchaus vom Sehen bekannt. Seit sie vor ein paar Monaten in der Gegend auftauchte, soll sie sich jeden Abend um halb acht hier niedergelassen haben, bis sie dann zwei Stunden später wieder loszog. Sie fiel nie unangenehm auf. Und keiner der Anwohner, die wir bisher befragt haben, konnte oder wollte irgendwelche sachdienlichen Angaben machen. Andere Obdachlose konnten wir nicht finden. Die zwei Kollegen, die ich zu der Halle geschickt habe, die Obdachlosen seit einiger Zeit als Unterschlupf dienen soll, haben dort zwar Spuren eines Lagers entdeckt, aber niemanden vorgefunden. Da kommen wir erst einmal nicht weiter. Ich schicke heute Abend eine Streife vorbei, die werden ja wiederauftauchen.«
Prinz seufzte. Warum musste ihm das ausgerechnet heute passieren? Er hatte noch so viel Material durchzuarbeiten, und die Tagung begann schon am Montag. Er war die alltägliche Kripoarbeit leid, die ihm seit so vielen Jahren schlaflose Nächte bereitete, und hatte sich sofort für die Mitarbeit an der paneuropäischen Taskforce gegen Rassismus und Gewalt im Fußball eingetragen. Kriminaldirektor Schneller höchstpersönlich hatte sein Gesuch abgenickt. Die internationale polizeiliche Arbeitsgruppe sollte im Zuge der ersten Tagung diese Woche hier in Berlin mit Vertretern aus Skandinavien, Großbritannien, Polen, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Spanien, Portugal und Italien gegründet werden. Die Teilnahme der Türkei war noch strittig, aber sicher würden sich die integrationsgeilen Organisatoren durchsetzen, und die Alis würden auch einige Plätze erhalten. Es war besonders wichtig, die Galatasaray- und die Fenerbahçe-Fans unter Kontrolle zu bekommen. Ginge es nach Prinz, bekämen die alle Einreiseverbot in den Schengenraum, dann könnten sie im eigenen Land Randale machen, so viel sie wollen. Bevor er sich so richtig in Rage denken konnte, winkte ihn Lutz Harnack zu sich.
Professor Dr. Lutz Harnack, Berlins Koryphäe der Rechtsmedizin und der an diesem Morgen diensthabende Leiter der KTI 21, der Tatortgruppe, die Spurensuche und -sicherung übernommen hatte, erhob sich neben der Toten. Er streifte die schwarzen Plastikhandschuhe ab und blies etwas wärmenden Atem in seine Hände. Heute sah er noch hagerer aus als sonst. Seine unnachahmliche Frisur ließ die Kapuze seines dünnen, halb offenen Schutzanzugs an der einen Seite ausbeulen, und irgendetwas stimmte nicht mit der dicken Wolljacke, die er darunter trug. Vermutlich war sie wieder einmal falsch geknöpft. Er wirkte irgendwie zerbeult. Doch dass man dieses Buch nicht nach seinem Einband beurteilen sollte, begriff selbst Prinz. Harnack genoss höchstes internationales Renommee auf dem Gebiet der forensischen Pathologie, er war ein gefragter Dozent und geschätzter Wissenschaftler.
Sachlich teilte Harnack dem Kollegen vom LKA 1 seine ersten Erkenntnisse mit. »Hauptkommissar Prinz, die Frau ist seit ungefähr zehn bis vierzehn Stunden tot. Genauer kann ich das wie immer erst sagen, wenn ich sie auf dem Tisch habe. Sie wurde erstochen, der Stich ging in ihre Lunge. Die Eintrittswunde sieht für mich auf den ersten Blick ungewöhnlich aus. Ich denke, das war kein gängiger Messertyp, aber auch hier weiß ich erst mehr, wenn ich mit dem Mikroskop rangehen kann und nachdem ich sie im CT hatte. Ich mache die Obduktion noch heute Abend, dann haben Sie gleich morgen den Bericht.«
Was haben die sich denn alle so? Das ist doch nun wirklich nicht so eilig, dachte Rolf Prinz. Er würde den Bericht sowieso nicht vor Montagabend lesen, vielleicht auch erst am Dienstag, je nachdem, wie der Begrüßungsabend der Fußball-Taskforce verlaufen würde. Er nickte dem Kollegen von der KT zu und ging zurück zum Dienstwagen. »Football’s coming home, it’s coming home«, summte er leise, während er den Sicherheitsgurt um seinen Leib schnallte und Fellner das Zeichen gab loszufahren.
Nach einem späten Frühstück im Stehen – drei doppelten Espresso mit reichlich Zucker – war Glander wie geplant in sein kleines Agenturbüro in Schöneberg gefahren. Dort hatte er einen längst überfälligen Bericht verfasst, ein paar Rechnungen geschrieben, eine erheblich höhere Summe zur Überweisung angewiesen und einige Mails beantwortet. Anschließend war er zu einem kurzen Mittagessen ins benachbarte »I due Emigranti« gegangen, um dann den frühen Nachmittag damit zu verbringen, Telefonate zu führen, online zu recherchieren und sich über Obdachlosigkeit in Berlin zu informieren. Er sprach mit einer Mitarbeiterin der Berliner Tiertafel e.V., die sich eigentlich in erster Linie um die Tiere mittelloser Menschen kümmerte. Aber die Ehrenamtlichen dort besaßen einen sehr unverstellten Blick auf die Menschen in Not. Was Glander im Zuge des Telefonats erfuhr, war alles andere als erbaulich. Als wohnungsloser Mensch fiel man zügig durch die Maschen des viel gerühmten sozialen Netzes. Und alle anderen Bürger der Stadt blendeten diese Art von Leid gemeinhin aus.
Als Glander das Büro am späten Nachmittag verließ, lagen die Straßen der Hauptstadt bereits in der Dämmerung. Anfang Februar hatte beinahe jeder Berliner das dunkle, kalte und schmuddelige Winterwetter satt. Viele Arbeitnehmer gingen im Dunkeln zur Arbeit und legten auch ihren Heimweg in Dunkelheit zurück, sodass sich nach drei Monaten Düsternis jeder nach dem Frühling sehnte. Licht und sprießendes Grün sorgten in der Hauptstadt alljährlich für eine deutlich spürbare Aufbruchsstimmung. Auch Glander freute sich auf länger werdende Tage und steigende Temperaturen.
Er entschied sich gegen den Weg über die Steglitzer Rheinstraße und die belebte Schloßstraße und nahm die schnellere Route über den Stadtring bis zum Steglitzer Kreisel. Das in den Siebzigerjahren errichtete ehemalige Bezirksverwaltungsgebäude war mit dreißig Stockwerken eines der höchsten Gebäude Berlins und eines der eindrucksvollen Mahnmale mangelnder West-Berliner Bauplanungskompetenz. Glander fuhr wie jedes Mal kopfschüttelnd an dem seit Jahren leer stehenden Betonklotz vorbei. Eklatante Fehlkalkulationen hatten 1974 zur Insolvenz des Bauträgers und zur Einstellung der Bautätigkeiten geführt. Die damaligen Bau- und Finanzsenatoren hatten gutgläubig – man munkelte damals, bewusst zu gutgläubig – eine Bürgschaft für das Projekt übernommen, und der Berliner Senat war auf einem gigantischen Schuldenberg sitzen geblieben. Ein Betrugsverfahren gegen die Architektin war ergebnislos verlaufen, und auch die beiden Senatoren hatten nicht belangt werden können. Allein der damalige Berliner Oberfinanzpräsident war vom Amt suspendiert worden. Er hatte der umstrittenen Architektin beruflich