100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 3. Erhard Heckmann

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100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 3 - Erhard Heckmann

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nachgeht, ist jedoch ein Gewässer, das Respekt verlangt. Sein Pegel kann sich an einem einzigen Tag um fünf Meter steigern und insgesamt um mehr als 18 Meter schwanken. Er riss auch schon Löcher in die Planken der Flussdampfer, deren Kapitäne sich schon damals darüber einig waren, dass er wohl der raueste Fluss in Nordamerika ist. Mit 152 Zentimeter Gefälle pro Meile, Stromschnellen, Whirlpools, unbekannten Kanälen, Canyons und sich stetig verändernden Sandbänke sorgten er dafür, dass die Dampfer, die ihn einst befuhren, für unsere heutige gemächliche Neunzig-Minutenfahrt 35 Stunden brauchten, um den gleichen Abschnitt zu bewältigen. Diese „Riverboats“ operierten auf dem 180 Meilen langen Gebirgsstrom aber nur für 22 Jahre, und als Letzter stellte der Sternwheeler „Inländer“ seinen Dampfkessel ab, als im September 1912 die Eisenbahn die Geschäfte übernahm.

      Eine der großen Segeltouren mit der Ocean Light II Adventures hätte mich schon gereizt, aber um die Schönheiten eines Landes kennen zu lernen, dazu braucht man keinen Luxus, das geht auch rustikal und ist dann oft viel schöner. Und eine solche Alternative fanden wir mit „Harry“, bei dem die Anzahl der Tage in seinem Buschcamp, als auch die Unternehmungen mit ihm, ausschließlich von unseren Wünschen abhingen. Und Harry, groß, hager, Mitte vierzig und sehr kühl wirkend, erschien, wie verabredet, in der Hotel-Lobby des Terrace-Inn auf die Minute pünktlich. „Kühl“ war der Mann aber keinesfalls, nur absolut korrekt, und auf die kurze Begrüßung folgt wie in einem Satz: „Die Übernachtung hier könnt ihr vergessen, alles schon geregelt. Bei diesem Superwetter fliegen wir sofort zu meinem Camp. Mein Truck steht draußen, fahrt mir einfach nach.“ Dann dreht er sich schon wieder zur Tür, marschiert raus, und wenige Minuten später folgen wir schon seinem roten Pickup, der nach einigen Kilometern den Yellowhead Highway verlässt und auf die „37“ Richtung Kitimat einbiegt. Am Lakelse Lake Provincial Park biegt Harry erneut ab, und über einen von hohen Fichten gesäumten Schotterweg erreichen wir sein Seegrundstück. Dort scheint er sofort zu merken, dass ich beeindruckt bin und meint, dass er das (sehr schöne) Blockhaus erst kürzlich fertiggestellt hätte, ich die Hälfte des Grundstücks kaufen und „mein“ Haus darauf bauen könnte. Zwanzig Jahre jünger hätte ich den Kaufvertrag für die Hälfte dieser traumhaften zweitausend Quadratmeter mit gewaltigen Zedern, Fichten und Tannen wohl sofort unterschrieben, zumal die umgerechneten 180.000 Euro, die Harry für Haus und Grund bezahlen musste, für deutsche Verhältnisse ein geschenkter Preis sind. Dazu den See, das nette Städtchen Terrace und die majestätische Umgebung, zu der auch die Lyton Hot Springs gehören, die volumenmäßig zu den größten heißen Quellen der Welt zählen. Die Natur hat hier aber noch mehr zu bieten. So den 90 Kilometer langen, von Fels und Regenwald gesäumte Douglas Channel mit Seelöwen, Orcas, riesigen Heilbutts, Lachsen, Grabben und Adlern, Gribbell Island mit seinen Kermote Bären oder die, im traditionellen Haisla Territorium liegende Kitlope Heritage Conservancy mit ihren bis zu 800 Jahre alten Bäumen. In unmittelbarer Nähe verläuft auch die Inside Passage und etwas entfernter, aber immer noch vor der erweiterten Haustür, der Yukon und Alaska. Mehr Natur kann man nicht erwarten. Zu schön, um davon zu träumen, für einen Neuanfang ist das aber zu spät.

      Vor Ort geht dann alles sehr flott. Ob wir die Koffer ins Haus bringen, oder im Auto lassen möchten, sei völlig egal. „Hier kommt nichts weg, du brauchst auch gar nicht abschließen“. Also Reisepapiere, Pass und Travellers Schecks (um die Fuhre zu bezahlen), Jacken, Pullover, Wanderschuhe … und ein kleines Gastgeschenkt in den Rucksack, Koffer wieder zu, Auto abschließen und ab zum Flieger am Bootssteg, denn der war schon startklar. Sabine nach hinten (sie braucht Rundumsicht für die Kamera), ich neben Harry, Kopfhörer auf, anschnallen, Fenster zu und ab geht’s. Das Ding flitzt wie auf Schienen über das glatte Wasser, ist am Seeende schon weit mehr als 100 Meter in die Lüfte geklettert, und vor uns liegen etwa fünfzig großartige Minuten. Auf Englisch würde man sagen “jaw-dropping scenery awaits you around every turn“. Und genauso ist es auch. Was unter uns liegt, ist eine ganz andere Welt. Berge, grün bewachsen bis zur Spitze, recken sich 2.000 Meter vom Seelevel fast bis zu uns herauf oder grüßen seitlich von höherer Warte mit Gletschern und steilen Felswänden , deren Granitmassen sich unüberwindlich kreuz und quer stellen. An ihrer Basis ungezählte Seen und Täler, die Gletscher über Jahrmillionen geformt und den Fels geschliffen haben, und in denen sich Wälder ausbreiten und an die Hänge klammern, soweit das Auge reicht. Zahllose Bäche stürzen hier zu Tal und springen den, sich wie glänzende Bänder durch die Täler windenden Flüssen oder smaragdgrün schillernden Seen entgegen. Was wir hier sehen ist eine grandiose Wildnis, unwahrscheinlich schön, aber auch absolut menschenleer, ohne Wege, abweisend, unzugänglich und Fehler nicht verzeihend. Und das da unter uns ist die Kitimat Range, eine der drei Küstensubregionen Kanadas, die vom Naas River im Norden bis Bella Coola im Süden reicht und im Osten an die Hazelton Mountains grenzt. Sie ist zwar niedriger als der südliche Nachbar, die Pazifik Region, aber wesentlich rauer und mit zahlreichen Küsteneinschnitten und fjordartigen Seetälern auf der Interiorseite des Gebirgszuges versehen. Bedenkt man, dass allein die 58.000 Hektar große Gitnadoix River Recreation Area, wo sich ähnlich wie im kalifornischen Yosemite Valley die Szenerie vom Talgrund bis hinauf in die Granitspitzen durch alle Vegetationszonen ausdehnt, nur ein kleiner Flecken in den Kitimat Bergzügen darstellt, begreift man ihre Weite.

      Die Chesna fliegt hier über ähnliches Gebiet, und meist eng an den Hängen entlang. Wegen der Thermik, nehme ich an. Und wenn Harry Bergziegen entdeckt, dreht er eine Extrarunde um oder über den Berg, um uns die schwer auszumachenden, und von weitem mit Schneeflecken zu verwechselnden Tiere aus der Nähe zu zeigen. Das führt auch unweigerlich zum „Luftanhalten“ weil man glaubt, der Viersitzer könnte die Bergspitze streifen. Der schnelle Blick auf das entsprechende Instrument lässt zwar sofort wieder durchatmen, doch kommt die eigentliche Gänsehaut erst nach dem Gipfel, denn dort stürzen Fels und Blick mindestens 2.000 Meter in die Tiefe. Auch wenn das nur für einen Moment gilt bis sich der nächste Klotz wieder aufrichtet, über den es hinweg oder vorbei geht, es ist gewöhnungsbedürftig. Auf vielen dieser Bergplateaus glitzern kleine, in vielen Nuancen schimmernde Seen oder große Pfützen. Anderswo hängen Schneebretter am Granit oder füllt Eis eine Senke. Für Sabine heißt das „Arbeit“, denn bei so viel Anmut hat sie alle Hände voll zu tun und rutscht vom linken zum rechten Fenster und wieder zurück, um ja nichts zu versäumen.

      Als Harry nach 50 Minuten irgendwo zwischen den Bergen zur Landung auf einem See ansetzt, an dem es nur ihn und sein Camp gibt und Nachbarn sowieso nicht, waren wir eigentlich schon restlos zufrieden, denn es war eine wunderbare Welt, die er uns gezeigt hatte. Der See hat keinen Namen und keine Fische, ist eiskalt und kristallklar, und der Pilot nennt ihn „Europe Lake“. Warum er diesen Namen wählte, weiß er auch nicht mehr, einfach so. Ist ja auch egal. Ringsum Natur pur, das reicht. Ehefrau Carol und Guide Wayne winken uns zu, und ziehen die Maschine rückwärts an ihren Liegeplatz damit wir trockenen Fußes über „Schwimmballons“ ans Ufer gelangen können, wo auf einer Holztafel die Hausnummer 44 vermerkt ist. Gebaut hat das unser Gastgeber alles selbst. Mit der Chesna den Platz gefunden, Boot und Säge eingeflogen, Bäume gefällt, Bretter und Rundhölzer geschnitten und zu Blockhütten zusammengefügt. Betten, Tische, Regale und die Kücheneinrichtung entstanden auf die gleiche Art, in Handarbeit der McCowan-Familie. Nur der Gasherd, sein Betriebsstoff und der Benzinvorrat kamen wie wir auch, per Wasserflugzeug. „Schön“ im europäischen Sinne ist das alles sicherlich nicht, aber perfekt praktisch, wie die Weinlagerung in der Hundehütte lustig, funktionell und blitzsauber. Die Küche dient gleichzeitig als Aufenthaltsraum und hat an der hinteren Wand zwei Doppelstockbetten für die Familie. Eins der beiden untersten ist besonders lang, und daran steht „Koch & Pilot“, Harrys Doppelfunktion. In den Gästehütten mit je zwei Doppelstockbetten, Waschbecken, Dusche, Regalen, Schuhbank, Kleiderhaken, Gasofen und elektrischem Licht ist Notwendiges vorhanden, denn das Wichtigste ist hier die Natur, nicht der Wohnkomfort. Bleiben noch zwei Dinge: Strom erzeugt ein Generator, und die Wasseraufbereitungsanlage bedient sich aus dem See. Der überdachte Boardwalk nach dort ist mit Lichtsensoren ausgestattet, wie auch der dreißig Meter lange Weg zum WC. Das „Häuschen“ hat allerdings nur zwei Wände, eine im Rücken, die andere links als Tür, die gleichzeitig auch die Frei- oder Besetztfunktion übernimmt, und eine offene „frei“ signalisiert. Die beiden anderen Seiten sind natürlicher Art, tiefster, dichter Busch. Aber was soll’s, die Hygiene stimmt, und unterwegs ist hier ohnehin

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