Der Tanz der Koperwasy. Bernd Nowak
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Man könnte meinen, dass er, als er die Familie an Ort und Stelle begrub, ungebührlich handelte. Heute ist es leicht, so zu urteilen, damals standen die Dinge allerdings ganz anders. Da herrschte Krieg, immer noch Krieg, die Toten bestattete man wo auch immer, denn für etwas anderes fehlte die Zeit. Besonders, wenn es um die Front und das an oder hinter der Front liegende Gebiet ging. Dass man sie überhaupt begraben hatte, war bereits ein humanitärer, für die Koperwasy überraschender Akt. Wer dachte damals an ein normales Begräbnis und einen Pfarrer? Wo hätte man ihn suchen sollen, wenn man doch nicht selten gerade einen Pfarrer begraben musste?
Das Gleiche gilt für die Verwaltung. Es gab in diesen Gebieten keine Ämter, die für Bestattungen zuständig gewesen wären oder Totenscheine hätten ausstellen können. Solche Dinge waren weder möglich noch wurde darauf – wie heute – Wert gelegt. Nicht nur solche Menschen wie die Koperwasy, sondern auch diejenigen, die wirklich an die Wiederauferstehung der Leiber glaubten, konnten nicht viel mehr tun, als die Toten in die geduldige Erde zu legen.
Jene, die Iryś nicht mögen, können sagen, dass er einfach das Terrain reinigte. Wenn sie wollen, sollen sie so reden, man sollte aber daran erinnern, was die Tante sagte: »Söhnchen, das war Krieg. Und das waren doch Deutsche.«
Trotzdem hat Iryś es gemacht. Er verspürte wohl auch keine größeren Hemmungen. Alle haben damals Leichen gesehen. Die von Deutschen, von Russen und auch polnische. Außer ihm war damals niemand dabei. Hätte es die Tante vielleicht tun sollen? Sie half ihm sowieso, die Grube zuzuschaufeln, nachdem er die Leichen dort hineingelegt hatte. Man sollte darin eher einen Akt des Mutes erblicken. Genauso, wie er sich später mitten in eine Keilerei begab, tat er bereits am ersten Tag etwas, wofür sich nicht jeder andere entschieden hätte.
Wenn ich heute über sie alle, diese Koperwasy, nachdenke, weiß ich, dass sie vielleicht gar nicht zu denen gehörten, die es in den Augen anderer verdienten, hervorgehoben zu werden. Der Blick des Erwachsenen reduziert solche Größen auf die eigentlichen Ausmaße, verschiebt sie sogar manchmal ins vollkommene Vergessen. Damals aber waren sie für mich die Wichtigsten. Sie verdienten in den Augen des Kindes, die wie ein Vergrößerungsglas sind, Aufmerksamkeit. Sie füllten den Horizont der Kindheit.
Sicherlich waren sie keine sogenannten Persönlichkeiten, aber gerade deshalb trieben sie auch niemanden in die Enge. Jeder wuchs dort so auf, wie er wollte. Ohne züchterische Eingriffe, wie größeres oder kleineres, mehr oder minder gelungenes Unkraut. Nur Marta war vielleicht eine Ausnahme.
Das muss ich allerdings präzisieren. Jeder von ihnen war für mich wichtig, denn jeder unterschied sich durch irgendetwas vom anderen. Bereits die grundsätzliche Teilung in Frauen und Männer bildete für die Koperwasy die Grundlage für weitere Unterscheidungen. Außerdem die Kleidung und die Gesichter. Die Kleidung vielleicht am wenigsten, denn damit beschäftigten sie sich angesichts ihrer Möglichkeiten in geringem Maße. Doch die Gesichter, obschon ähnlich, waren der Anfang weiterer Klassifizierungen. Nicht für äußere Unterscheidungen, sondern für die in die Tiefe reichenden. Und menschliche Gesichter waren für mich – trotz allem – ein großes Geheimnis; sie sind es noch immer. Als der am stärksten vergeistigte Teil des Menschen, mit Augen und Nase, ließen sie darunter die Existenz – noch nicht der Seele – aber eines Innenlebens voller Rätsel und Möglichkeiten vermuten. Sie verbargen unter der Haut der Stirn die Erinnerung an all das, was sich viele Jahre vor mir ereignet hatte, und bewahrten eine unzugängliche und unverständliche Weisheit. Ich war nämlich zutiefst überzeugt, dass alle Erwachsenen das verstehen, was man in meinem Alter nicht wissen kann. Dass man automatisch, nach Überschreitung einer recht vagen Grenze, eine Erleuchtung erfährt und weiß, oder zumindest vermutet, wofür man lebt. Und, wie man leben sollte. Woher sollte ich, ein Kind, wissen, dass dies nur eine weitere Mystifikation war.
Iryś war einer der begabteren Diebe. Onkel Fred, ein guter Kumpel Kazik Krupniaks, des ersten Mannes von Marta, nahm ihn – trotz seines jungen Alters – auf seine Streifzüge mit. Sie fuhren bis zur Festung Breslau, um von dort mit Fuhrwerken zurückzukommen, die mit allerlei Gut beladen waren. Die Tante begleitete sie. Sie wusste nur zu gut, dass diese Philosophen ohne sie nichts, was für die Hauswirtschaft nötig war, herbeischaffen würden. Gerade zu jener Zeit versorgten sie die Gegend mit starken Pferden, die auf deutschen Höfen davongekommen waren. Und mit Aloch, wenn man das so sagen darf. Denn bei einer dieser Unternehmungen kam er mit ihnen hierher. Und blieb.
Die ersten waren die besten Monate. Später fingen schlechtere an. Es wurde kontrolliert, man forderte Empfangsscheine und Genehmigungen oder immer größere Schmiergelder – was so weit ging, dass sich die Sache nicht mehr lohnte. Iryś hatte noch die Idee, die Güter per Bahn herzuschaffen, aber das gelang nicht öfter als zweimal. Beim dritten Mal bekam es jemand mit – und alles ging verloren. Es gelang ihnen noch, die jungverheiratete Marta mit hineinzuziehen. Nur einmal, was aber genügte, dass sie – nach der Geschichte mit dem Russen und nach dem Tod der Kinder – gerade in jene Gegend reiste.
Nicht reiste, sondern floh. Dort eine neue Bleibe zu finden und von Neuem anzufangen, war recht einfach. Es genügte, an die Haustür eines verlassenen Hauses einen Zettel – »Von einem Polen belegt« – zu hängen, und man wurde zum Besitzer des gesamten Gehöfts mit all seinen Gerätschaften. Sie war eine der Ersten. Sie wählte ein hübsches Haus mit kleinem Garten und wirtschaftete einsam auf ein paar Morgen Land.
Diese Einsamkeit war, wie sich bald herausstellen sollte, unvollkommen. Man wunderte sich, dass sie die Offerten der von hinter dem Bug heranströmenden Freier ablehnte. Man wusste nicht, dass der Platz an ihrer Seite bereits besetzt war. Durch Kurt. Eines Tages nämlich, als sie in den Schweinestall ging, um etwas zu holen, stieß sie auf einen vor dem Trog knienden Soldaten in Uniformfetzen. Er nahm gerade das restliche Schweinefutter heraus. Niemand von den beiden geriet in Panik; beide hatten schon so viel gesehen, dass sie sich über nichts mehr wunderten.
Der mit deutschen Uniformresten bedeckte und von mehrtägigem Bartwuchs schwarzgesichtige Kurt sah aus wie ein menschlicher Fetzen. Der junge Organismus sollte aber bald wieder zu Kräften kommen. Nach ein paar Wochen kam Kurt wieder zu sich und begann mit seinen Reisevorbereitungen. Marta besorgte ihm einen Anzug und eine hübsche Reisetasche.
Eines Tages verschwand er aus dem Dorf; im letzten für die Flucht geeigneten Moment. Sie verschwanden beide. Kurt wusste nur zu gut, dass sie ihn erschießen würden, wenn sie ihn fänden. Bevor er auch nur im Stande gewesen wäre, den Mund aufzumachen.
Die Abwesenheit Martas entdeckte man erst nach vier Tagen. Direkt vor der Flucht hatte sie den Tieren noch Futter in den Trog gelegt, aber als keines mehr da war, alarmierten die im Stall eingeschlossenen Kühe die nächsten Nachbarn durch lautes Brüllen. Diejenigen, die das Haus als Erste betraten, fanden eine in der Eile hinterlassene Unordnung vor, ein Koppel mit der Aufschrift Gott mit uns sowie zwei Knöpfe. Gerade wegen dieser auf die Fantasie eines Kindes wirkender Accessoires und der über sie verbreiteten halb legendären Erzählung schlichen sich vollkommen neue Gedanken in meine Kindheit ein. Das, was magisch und unschuldig war, begann unumkehrbar auszutrocknen. Ich betrat den schwierigen Weg von Gut und Böse.
Die Geschichte Kurts erfuhr ich erst später, übrigens von Marta selbst. Er war einer der wenigen, dem es gelungen war, aus Lambsdorf zu entkommen. Von polnischen und sowjetischen Kommandos verfolgt, schlug er sich nächtens nach Westen durch. Er versuchte, zu Großmutter