Namaste geht immer. Gabriele Prattki
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New Delhi 2012
Durch die geschlossenen Hotelfenster hört Sabina Muezzins, Vogelstimmen, Züge, Hupen, leises Dröhnen, Trillerpfeifen. Nach der kurzen Nacht fröstelt sie und fühlt sich ziemlich aufgedreht. Sie öffnet den Koffer, sucht Söckchen heraus und zieht sie an. Dann kramt sie Stift und Papier aus ihrem Tagesrucksack und beginnt zu schreiben.
Liebe Ella,
ich bin wieder in Indien! Hättest du das je gedacht? Indien, mein Trauma-Land. Nie wieder, habe ich noch letztes Jahr in Marokko gesagt, als Mitreisende von ihren Indienreisen schwärmten. Doch hier bin ich! Ich werde mit einer Gruppe zwölf Tage überwiegend in Rajasthan reisen, dann durch Uttar Pradesh bis nach Varanasi. Du hast schon vor Jahrzehnten so begeistert von Benares, dem heutigen Varanasi erzählt, dass ich diese besondere Stadt unbedingt erleben möchte.
Ich habe in den letzten Monaten oft an dich gedacht. Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Weißt du noch, in dem kleinen Café? Du warst gerade aus Namibia zurückgekommen und sagtest: „Dieses Mal habe ich mich mit dem Reisen überfordert.“
In New Delhi ist es gerade acht Uhr, in Deutschland wird es etwa 3.30 Uhr sein. Smog vernebelt mir an diesem November-morgen die Sicht durch das Hotelfenster im achten Stock. Im Häusermeer erkenne ich schemenhaft Dachterrassen mit Stühlen, Tischen, Fässern und Wäsche, die schlaff über Leinen hängt.
Ich habe in meinem prunkvollen Hotelzimmer nicht einmal die vier Stunden geschlafen, die ich nach unserer Ankunft hätte ruhen können. Mein Herz klopfte, die Klimaanlage brummte, Aufzüge fuhren beständig. Es war, als fände ein großer Umzug statt, bei dem Möbel hin- und hergeschoben wurden.
Von Frankfurt bis New Delhi dauerte der Flug etwa acht Stunden. Für Sabina verlief die Zeit recht kurzweilig, da das Bordpersonal häufig Getränke, mehrere Mahlzeiten und vor der Landung feucht-heiße Tücher zum Erfrischen anbot. Manchmal, wenn sie aus dem kleinen Fenster lugte, hatte sie das Gefühl, auf dicken Spinnennetzen zu schweben – Kondensstreifen über Großstädten. Ab halb vier nachmittags gab es ein fantastisches Farbenspiel in Rosa und Purpurrot am Himmel, darunter ein dunkles Blau. Dunstschleier zogen davor.
Dann wurde es Nacht, und die Dunkelheit begleitete sie bis nach Indien.
Jeder Fluggast hatte einen Monitor vor sich. Wer nicht schlafen wollte, konnte dem Reiseverlauf folgen. Landschaften, Bergketten und Schneereste zeigte der Bildschirm, das Schwarze Meer bei Baku aus der Vogelperspektive, den Indus, auch Kabul und Amrit-sar.
Sie erinnerte sich an die Treffen der Globetrotter vor vielen Jahren und Ellas lebhafte Schilderungen zu Fotos vom Goldenen Tempel der Sikhs in Amritsar. Jene Treffen in den achtziger Jahren – endlose Nächte …
Rückblick
Globetrottertreffen fanden seit Jahren alle vier Wochen bei einem der Reisefreunde statt. Interessante Geschichten wurden zu beeindruckenden Dia-Shows erzählt und Rezepte exotischer Gerichte mit fremden Gewürzen ausprobiert. Einmal gab es bei Ella chinesische Suppe, die alle nur mit Stäbchen schlürfen durften, dafür aber laut „wie die Chinesen, doch macht’s bitte nicht genauso wie sie. Sie rülpsen heftig und spucken auf den Boden aus Höflichkeit dem Gastgeber gegenüber.“ Münzen, Stickereien, Figürchen, Seide, Schmuck – vieles, was von den Reisen mitgebracht worden war, bewunderten die Freunde in jenen langen Nächten. Morgens hatte jeder rote Augen. Manchmal sahen sie bis zu tausend Dias an, auch wenn dem einen oder anderen zwischendurch die Augen zufielen. Beim Erwachen war man dann nicht mehr im Jemen, sondern in Indonesien oder Peru. Die Treffen waren spannend und weckten Neugierde auf weitere Erfahrungen in der Fremde.
2012
Sabina bleibt bis zum Frühstück noch ein wenig Zeit.
Schon letzte Nacht war es spannend auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel. In der Dunkelheit fielen vor uns plötzlich Lichtkaskaden aus großer Höhe auf die Straßen.
„Diwali“, erklärte unser indischer Reiseleiter. „Das Lichterfest zu Ehren der Göttin Lakshmi ist gerade vorbei.“ Wir waren zunächst durch die Slums gefahren, vermute ich. Dort schwankte mal eine schwache Glühbirne hin und her, mal flackerte ein Kerzenlicht. Es war zu dunkel, um zu erkennen, was der Tag ans Licht bringen mochte. Für uns überraschend funkelten dann in der Finsternis die Lichterketten in Rot, Blau, Grün und Gelb. Nicht nur die Läden, Hotels und Büros entlang der Hauptstraße waren geschmückt, sondern auch die Gebäude in den Nebenstraßen. Soweit unsere Blicke reichten, glitzerte ein Meer aus unzähligen Sternchen.
„Diwali ist der Beginn des hinduistischen Neujahrs“, erklärte Kishan, unser Reiseleiter. „Gestern gab es überall fantastisches Feuerwerk.“
„Wer zahlt denn die Stromkosten für die Lichtspielereien?“, fragte jemand aus der Gruppe mit dem unüberhörbaren Unterton, das könne sich hier doch keiner leisten.
„Zu Ehren der Göttin Lakshmi, die als Spenderin von Gold und Glück gilt, werden keine Kosten gescheut.“
Gleich gibt es das erste indische Frühstück. Ich habe zwar noch keinen Appetit, bin aber neugierig. Danach werden wir einige Sehenswürdigkeiten in New Delhi besuchen.
Diese Reise wird völlig anders verlaufen als die drei Wochen im Jahr 1983 mit dir, Ella, die für mich unvergesslich bleiben werden.
1983 – Erste Indienreise
Sabina strich mit beiden Händen über ihren Bauch. Vor einigen Wochen war sie aus Indien zurückgekommen und hatte sich im Krankenhaus behandeln und im Hamburger Tropeninstitut untersuchen lassen müssen. Eine somatische Ursache für ihre anhaltenden Durchfälle war nicht gefunden worden.
Der Hausarzt fragte, ob sie Stress oder Angst während der Reise gehabt hätte.
Schon vor der Reise hatte sie Angst gehabt, das aber verdrängt. Die Globetrotter, die bereits in Indien gewesen waren, hatten fasziniert von allem berichtet, was sie dort erlebt hatten: die Schönheit der Berge Kaschmirs, Rituale der Hindus, Leichenverbrennungen am Ganges, traumhafte Strände. Ashrams schienen beliebte Aufenthaltsorte für Menschen auf spiritueller, manchmal auch sexueller Suche zu sein. Von Toten auf den Straßen, um die sich niemand zu kümmern schien, hatte Sabina gehört. Unvorstellbar musste die Armut in Städten wie Kalkutta oder Benares sein. Für die Rucksackreisenden war alles interessant, exotisch und für einige wie ein Rausch gewesen.
Etwas in der Art hatte sich auch Sabina versprochen. Doch während ihrer sechsmonatigen Vorbereitung auf das Land hatten sich auch Zweifel eingestellt. So viel bittere Armut! Wollte sie sich das antun? Zusehen – wie Menschen in Deutschland Unfälle begafften – ohne helfen zu können? Doch ihre Freude an Menschen und exotischen Landschaften, die Neugier