Alles für Allah. Nina Scholz
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Der Brief befasst sich aus aktueller islamischer Perspektive mit zahlreichen weiteren Details. Zur Veranschaulichung mögen noch zwei Beispiele dienen: Körperstrafen werden nicht abgelehnt, sie seien vielmehr „gemäß islamischem Recht zweifellose Pflichten“, die allerdings an ein „klares Prozedere“ gebunden seien. Dem IS wird vorgeworfen, sich nicht daran zu halten. Die Gelehrten kritisieren ihn dafür, dass er grundlos Muslime zu Nichtmuslimen und damit zu Abtrünnigen erkläre und daraus für sich das Recht ableite, sie zu töten. Man könne Muslime nur zu Nichtmuslimen erklären, wenn diese „offenkundig den Unglauben kundgetan haben“. Das bedeutet letztendlich, dass ein Muslim, der beschließt, dem Islam den Rücken zu kehren, zu konvertieren oder nicht mehr an Gott zu glauben und das öffentlich kundtut, auch nach Meinung dieser 120 Gelehrten verfolgt und hingerichtet werden kann. In den Ländern, in denen Scharia-Recht gilt, ist genau das auch der Fall. Wir haben hier also einen innerislamischen Streit um den Weg, nicht aber um das Ziel vor uns.
Der aufgeschlossene frühere kuwaitische Kommunikationsminister Saad bin Tafla al Ajami schrieb 2014 in einem kritischen Artikel mit dem Titel „Wir alle sind ISIS“, der IS sei das Produkt eines fundamentalistischen Diskurses, der die islamische Welt seit Jahrzehnten dominiere und Intoleranz bis hin zum Hass gegenüber allem predige, was anders sei. „Die Wahrheit, die wir nicht leugnen können“, schreibt er, „lautet, dass ISIS in unseren Schulen gelernt, in unseren Moscheen gebetet, unsere Medien und religiösen Plattformen gehört, unsere Bücher und Texte gelesen hat. Sie folgen den Fatwas, die wir produziert haben.“ Der IS steigere lediglich die Ideologie des politischen Islam ins Extreme, während sich die Welt und die meisten Muslime an die „sanftere“ Variante des politischen Islam bereits gewöhnt hätten.14 Dieser „sanfteren“ Variante des Islamismus gilt das Hauptaugenmerk des vorliegenden Buches, ohne die gewalttätige aus dem Auge zu verlieren, denn die Auswirkungen von Gewalt und Terror verändern unsere Gesellschaft in nicht unerheblichem Maße und werden von legalistischen Islamisten durchaus bewusst als Faustpfand und latente Drohung eingesetzt.
› Gewaltfreier und gewalttätiger Islamismus weisen nicht nur ideologische Gemeinsamkeiten auf, sondern auch vielfältige personelle und organisatorische Verbindungen.
So dehnt sich etwa das Netzwerk der Muslimbruderschaft in beide Richtungen aus. Auf der einen Seite existiert eine mittlerweile schwer überschaubare Anzahl an Organisationen der Bruderschaft, die in Europa im Rahmen der demokratischen Möglichkeiten in verschiedensten Bereichen operieren. Die Devise lautet hier: Zerstörung der Demokratie mit den Mitteln der Demokratie – ein bislang viel zu wenig erforschtes Feld, auf dem die Islamismusexpertin Sigrid Herrmann-Marschall Pionierarbeit leistet.15 Auf der anderen Seite gab und gibt es militante Zweige der Muslimbruderschaft, wie etwa die Hamas, der palästinensische Zweig der Bruderschaft. Für Letztere wiederum werden in Europa von legal arbeitenden Organisationen des Netzwerks Spenden gesammelt. So etwa in Deutschland von der von Millî-Görüş-Mitgliedern gegründeten „Internationalen Humanitären Hilfsorganisation“ (IHH), weshalb diese im Jahr 2010 verboten wurde. Die Israelitische Kultusgemeinde in Österreich forderte die Regierung auf, mit der österreichischen Zweigstelle ebenso zu verfahren, während der Wiener SPÖ-Gemeinderat Omar Al-Rawi die türkische Dachorganisation der IHH als „Friedensaktivisten“ verteidigte.16
Im Laufe der Geschichte war immer wieder zu beobachten, dass islamistische Organisationen je nach aktuellen politischen Gegebenheiten ihre Strategie von gewaltfrei zu gewalttätig oder vice versa änderten. Auch hierfür ist die Muslimbruderschaft ein gutes Beispiel. Die ägyptische Mutterorganisation etwa durchlief während ihrer wechselvollen Geschichte Phasen der Legalität und solche der Illegalität. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit bestand und besteht aus sozialem Engagement. Man kann dieses Vorgehen durchaus als eine Art Graswurzel-Strategie bezeichnen. Für ihre Ziele greifen Teile der Muslimbruderschaft aber auch immer wieder zu Gewalt und Terror. Die Trennlinie zwischen gewaltbereiten und gewaltfreien oder gewalt-ablehnenden Islamisten ist also nicht immer eindeutig zu ziehen und oft nur eine Frage der Taktik. Auch wer den IS ablehnt und ihn theologisch und politisch bekämpft, ist nicht automatisch ein Demokrat.
WAS IST POLITISCHER ISLAM?
Im Kern ist der Islamismus antiwestlich und verspricht ein Gegenmodell zur aktuellen Weltordnung, zu Säkularismus und Demokratie. Die Kritik an der vom Westen dominierten Weltordnung vereinfacht es legalistisch operierenden islamistischen Organisationen, mit Teilen der antiwestlich ausgerichteten Linken zusammenzuarbeiten. Die Ideologie des Islamismus baut, vereinfacht gesagt, auf folgenden Prämissen auf:
• Einteilung der Welt in „Gläubige“ und „Ungläubige“ — in Muslime und Nicht-Muslime,
• Imagination einer idealisierten weltweiten islamischen Gemeinschaft (Umma),
•Überlegenheit des Islam gegenüber allen anderen Religionen/Weltanschauungen und Gesellschaftsvorstellungen,
• Ablehnung von liberaler Demokratie, allgemeinen Menschenrechten sowie der Trennung von Religion und Staat,
• Gleichwertigkeit von Männern und Frauen vor Gott, aber unterschiedliche Rechte und Pflichten im Diesseits,
• Opferrolle der Muslime als weltweit angegriffener Gemeinschaft.
Die Prämissen der Ideologie werden von den unterschiedlichsten islamistischen Gruppen in verschiedener Gewichtung geteilt und sind mit einer antimodernen und antiaufklärerischen Grundeinstellung verbunden, zu der auch Verschwörungstheorien gehören.
Der Islamismus kann als islamischer Puritanismus17 beschrieben werden. Er sieht in der islamischen Überlieferung von Koran, Sunna (Sammlung der Mohammed zugeschriebenen Aussprüche und Handlungen) und Prophetenbiografie (Sira) die verbindliche Grundlage für soziale Normen, die allesamt als gleichermaßen wichtig und notwendig betrachtet werden. Um in diesem Sinne ein guter Muslim, eine gute Muslimin zu sein, reicht es nicht, die traditionellen fünf Säulen des Islam zu beachten (Glaubensbekenntnis, Pflichtgebete, Almosengabe, Fasten, Pilgerfahrt), vielmehr sind alle Regeln des allgemeinen und alltäglichen Verhaltens zu befolgen. Dazu zählen etwa das Alkoholverbot, Speisevorschriften, Kleidervorschriften, Regeln für den Umgang mit Andersgläubigen, Regeln für den Umgang der Geschlechter und diverse sexuelle Restriktionen.
Diese Sichtweise will das Leben des einzelnen Menschen bis in Details hinein von religiösen, also sakralisierten Vorschriften bestimmt wissen. Diesen Vorschriften kommt dabei der gleiche Rang zu wie rituellen Vorschriften und Regeln.18 Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann hat hierfür – wie auch für puritanische Bewegungen anderer Religionen – den Begriff „totale Religion“ eingeführt.19 Der französische Staatsrat Thierry Tuot hat das Phänomen Islamismus auf den Punkt gebracht: Islamismus sei das „öffentliche Einfordern von sozialen Verhaltensweisen, die als göttliche Gebote präsentiert werden und in den öffentlichen und politischen Raum eindringen“.20 Für viele Muslime scheint es das klar strukturierte Korsett sozialer Normen, klarer Regeln des Erlaubten und Verbotenen21 zu sein, das die Attraktivität des Puritanismus ausmacht. Er ersetzt jegliche individuelle Verantwortung sowie eigenständige Auseinandersetzung mit dem Islam. Das gute und richtige Leben, das gleichzeitig das Heil im Jenseits garantiert, besteht dann einzig in der Einhaltung eines Regelwerks.
Islamische Unduldsamkeit
Die Befolgung dieses