Alles für Allah. Nina Scholz
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Besonders bekannt ist etwa der Koranvers 3:114, in dem es heißt, die rechtschaffenen Muslime „gebieten das Rechte und verbieten das Unrechte“, oft ergänzt durch ein dazupassendes Hadith: „Wer von euch etwas Schlechtes sieht, soll es durch seine Hand verbessern. Wenn er dazu nicht in der Lage ist, soll er es durch seine Zunge verbessern. Wenn er auch nicht dazu in der Lage ist, soll er versuchen, es durch sein Herz zu verbessern; und dies ist der schwächste Grad des Glaubens.“22 Das ist der Nährboden, auf dem Intoleranz, Unduldsamkeit und Bevormundung gedeihen. Sein gewaltbegünstigendes Potenzial liegt auf der Hand.
Unter diesem Einfluss verwandeln sich Heranwachsende in Glaubenshüter und Sittenwächter, die sich dazu berufen fühlen, muslimische Mitschüler und Mitschülerinnen im Ramadan zum Fasten anzuhalten, Mädchen aus muslimischen Familien, die kein Kopftuch tragen, als Schlampen zu bezeichnen, die sich wie Deutsche, Österreicherinnen etc. verhielten, und den Umgang der eigenen Schwestern und Cousinen mit dem anderen Geschlecht zu überwachen. Um eine solche Haltung an den Tag zu legen, müssen sie weder im Koran noch in anderen religiösen Schriften bewandert sein: Es geht um Prägung, um Beeinflussung durch das, was als Vorstellung vom Islam, als Geisteshaltung und Essenz in der Familie, der Nachbarschaft, in diversen Moscheen und im Herkunftsland, an dem sich viele Familien nach wie vor stark orientieren, tradiert wird.
› Die islamistische Bewegung setzt ihre Ideologie global als Mainstream immer deutlicher durch und hat die Gesellschaften in mehrheitlich islamischen Ländern zunehmend im Griff.
Das färbt selbstverständlich auch auf muslimische Gemeinden außerhalb ab. Eine „Kultur des Extremismus in muslimischen Gemeinschaften“ bringe weltweit abweichende Stimmen zum Schweigen, bemerkt die Politikwissenschaftlerin Elham Manea.23
ISLAMISMUS – GESCHICHTE UND GEGENWART
„Und wenn sie Euch sagen: ‚Da ist Politik‘, dann sagt ihnen, dass das der Islam ist und wir die Trennung in Religion und Politik nicht kennen.“
Hasan al-Bannā, Gründer der Muslimbruderschaft
Die Idee, sich auf die Vorväter, auf einen als „wahr“ und „unverfälscht“ imaginierten Islam der Anfangszeit zu beziehen, existiert spätestens seit dem 9. Jahrhundert. In der Geschichte der islamischen Welt gab es immer wieder Denker, Prediger und Herrscher, die zu einer Rückbesinnung aufriefen, um die Herrschaft des Islam zu neuer Größe zu führen. Der Islamismus im eigentlichen Sinne kann als spezifisch islamische Reaktion auf die Moderne verstanden werden, wenngleich er sich auf mittelalterliche puritanische Denker24 beruft.
Die westliche Moderne zeichnet sich, beginnend mit der Aufklärung, in erster Linie durch Individualisierung der Gesellschaft aus, das heißt durch die Herauslösung des Einzelnen aus seinen traditionellen Bindungen an Familie, Clan und Stand. Erst durch diesen Schritt wurde der Gedanke der individuellen, voraussetzungslosen Menschenrechte möglich: Rechte, die dem Einzelnen aufgrund seines Menschseins zustehen und nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, einer bestimmten Religion oder seines Geschlechts. Mit der Befreiung des Individuums wurden in Gestalt politischer Ideologien aber auch jene Kräfte geboren, die das Individuum wieder in den Schoß der Kollektive zurückdrängen wollen. Die Auseinandersetzung zwischen beiden Bestrebungen ist Teil der europäischen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte: vom jakobinischen Terror bis zu den Verbrechen der großen ideologischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts in Europa.
Am Ende des 18. Jahrhunderts brach diese Moderne jäh in die islamische Welt ein. Nach der Landung Napoleons in Ägypten (1798) eroberten die Franzosen binnen weniger Wochen das ganze Land. Drei Jahre später waren es nicht etwa der ägyptische Widerstand oder die osmanische Armee, die die napoleonischen Truppen zum Rückzug zwangen, sondern die Briten.25 Zwar gehörte Ägypten fortan wieder zum Osmanischen Reich, der Einfluss des Sultans schrumpfte jedoch zusehends. Diese drei Jahre hatten der islamischen Welt endgültig vor Augen geführt, dass sie nach eintausend Jahren erfolgreicher kriegerischer Eroberung und dem Aufbau zweier Imperien nicht mehr im Zentrum der Weltpolitik stand, sondern von aufsteigenden europäischen Mächten abgelöst und zu deren Spielball degradiert worden war.
Napoleons Siegeszug war jedoch nur das offensichtlichste Symptom des wirtschaftlichen und militärischen Niedergangs eines Imperiums, das das östliche und südliche Mittelmeer, das Gebiet vom Balkan bis nach Persien und zeitweise um das Schwarze Meer herum jahrhundertelang beherrscht hatte. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erhoben sich zunächst die Griechen, später auch die Serben und Bulgaren. Binnen weniger Jahrzehnte hatte das osmanische Reich den größten Teil seiner europäischen Gebiete verloren. Gleichzeitig entledigten sich erste arabische Gebiete der osmanischen Hoheit. Die Schwäche der Osmanen nutzten Frankreich, England und Russland aus, um sich Teile der bislang osmanisch regierten arabischen Welt beziehungsweise weite Teile Zentralasiens und des Kaukasus einzuverleiben.
Während christlich bewohnte Gebiete des Reiches diese Entwicklung begrüßten, gerieten erstmals Millionen Muslime unter nicht islamische Herrschaft. Man kann hier aus islamischer Perspektive von einer historisch neuen Situation sprechen, die im theologisch-politischen Konzept des Islam nicht vorgesehen war. Nie zuvor mussten muslimische Gesellschaften unter nicht islamischer Herrschaft leben. Es ist leicht nachvollziehbar, dass der Verlust der Weltmachtstellung in der islamischen Welt zu einem tiefen Trauma führte.
› Diese gravierenden Veränderungen weckten den Ruf nach einer Rückbesinnung auf die als glorreich überlieferte Frühzeit des Islam, mit dem Ziel, die verloren gegangene Größe und Dominanz in der Welt zurückzugewinnen.
Es waren verschiedene islamische Denker, die als Reaktion auf diese Krise eine rückwärtsgewandte Utopie entwickelten26, die als Vorläufer der heutigen islamistischen Bewegungen betrachtet werden kann. Im 19. Jahrhundert entstanden auch die ersten modernen puritanischen Bewegungen, wie etwa die Deobandis in Indien. Letztlich liegt dem Islamismus der Versuch zugrunde, die Diskrepanz zu beseitigen, die sich aus erlebter Realität einerseits und dem Glauben an die von Gott versprochene Weltherrschaft des Islam andererseits ergab.
Neben der rückwärtsgewandten puritanischen Bewegung entwickelte sich auch eine Denkrichtung, deren Ziel Modernisierung und Weiterentwicklung war. Der albanischstämmige osmanische Vizekönig von Ägypten, Muhammad Ali, suchte den Anschluss an die europäische Moderne. Zwischen 1826 und 1831 entsandte er eine große Expedition nach Paris, mit dem Auftrag, dort Wissen zu sammeln. Darauf aufbauend modernisierte er das Land am Nil mit eiserner Hand. Einer der Teilnehmer der Expedition, der ägyptische Gelehrte Rifa’a Rafi at-Tahtawi, beschäftigte sich in seinem Reisetagebuch mit den zivilisatorischen Errungenschaften Europas und sprach sich für eine Bildungsoffensive in der islamischen Welt aus, ohne dabei die westliche Kultur zu übernehmen.27
Etwa 120 Jahre nach Napoleons Ägyptenfeldzug kam es 1924 zum zweiten traumatischen Einschnitt: die Abschaffung des Kalifats durch Mustafa Kemal Pascha (1881–1938), der später mit dem Ehrennamen „Atatürk“ bedacht wurde. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs versuchten Großbritannien und Frankreich, das verbliebene anatolische Kernland des Osmanischen Reiches zu zerstückeln, große Teile sollten an Griechenland, Frankreich, Italien und Armenien gehen. Dagegen mobilisierte Mustafa Kemal den militärischen Widerstand. Nach dem Sieg gegen die Alliierten, der die Türkei als Staat in seinen heutigen Grenzen sicherte, baute er das Land zum Nationalstaat nach europäischem Vorbild