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durch eine nationalistische Identität ersetzt.

      Mit der Abschaffung des Kalifats war die sunnitische Welt ihres geistigen Oberhaupts beraubt worden. Seit den Tagen Sultan Selims I., also seit mehr als 400 Jahren, hatte sich der Sitz des Kalifen in Konstantinopel/Istanbul befunden. Vier Jahre nach der Abschaffung des Kalifats gründete Hasan al-Bannā wie erwähnt in Ägypten die Muslimbruderschaft, die sich fortan als islamistische Massenbewegung erfolgreich über Ägypten hinaus ausbreitete und binnen weniger Jahrzehnte zur einflussreichsten islamistischen Bewegung entwickeln sollte. Die tunesische ENNAHDA ist ebenso ein Ableger der Muslimbruderschaft wie die Hamas, die „Islamische Aktionsfront“ in Jordanien, die FIS in Algerien oder die „Nationale Islamische Front“ im Sudan.

      Aber auch in der Türkei selbst blieb in religiösen Kreisen der Glaube an die Wiedererrichtung des Kalifats virulent. Seit die AKP mit Erdoğan die Wahlen gewinnen konnte, ist die ideologische Rückbindung an die Zeit des Osmanischen Reichs und an das Kalifat unübersehbar geworden. Deutlich wird das auch am Versuch, den kemalistischen Nationalmythos, die Schlacht von Çanakkale (Gallipoli) im Jahr 1915 in einen Sieg des Islam umzudeuten. Galt diese Schlacht im modernen türkischen Nationalbewusstsein als Sieg der türkischen Nation über die Alliierten und damit als Geburtsstunde der modernen Türkei, so wird sie im Denken türkischer Islamisten nun zu einem Sieg über die „Ungläubigen“. Ein Narrativ, das auch in türkischen Moscheen in Westeuropa präsent ist.28 In islamistischen Kreisen wurde Atatürk stets als Feind des Islam betrachtet und mitunter bezichtigt, ein Jude zu sein. Die Abschaffung des Kalifats konnte man sich nur als eine Verschwörung vorstellen. Unter Erdoğans Führung ist eine zunehmende Abwendung vom bislang übermächtigen Gründervater der Türkei zu bemerken.

       DIE ISLAMISIERUNG DER ISLAMISCHEN WELT

      Zwischen den 1930er- und 1960er-Jahren erlangten alle vormals kolonisierten islamischen Staaten die Unabhängigkeit. Vor allem die Staaten Nordafrikas und der Levante orientierten sich in der Folge an europäischen politischen Systemen. Sozialismus, Nationalismus und verschiedene Mischformen, wie etwa jene der syrischen oder irakischen „Baath-Partei“, hatten ab den 1940er-Jahren Konjunktur, konnten aber letztlich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme ihrer Länder nicht lösen. Spezifische, über Jahrhunderte verfestigte autoritäre Strukturen – von der Führung bis auf die untersten Ebenen der Gesellschaft –, Klientelwirtschaft, Korruption und ein damit zusammenhängender Mangel an Gesellschaftsbildung standen dem wirtschaftlichen Aufschwung im Weg und ließen weite Bevölkerungsschichten verarmen.

      Das eröffnete der islamistischen Bewegung zahlreiche Entfaltungsmöglichkeiten. So sorgte die Muslimbruderschaft in Ägypten in weiten Regionen für medizinische Versorgung, Armenspeisungen und Schulbildung. Überall dort, wo der Staat abwesend war, war die Bruderschaft zur Stelle und propagierte über Wohltätigkeitsprogramme auch islamische Moral- und Gesellschaftsvorstellungen. Sie mobilisierte auch für die islamische Erweckung Ägyptens gegen die britische Okkupation und gegen den „dekadenten westlichen Einfluss“. Die Parole „Der Islam ist die Lösung!“ wurde dabei zum Leitspruch. Der Kampf der Muslimbruderschaft richtete sich auch gegen den städtischen, modernen Teil der Bevölkerung, der sich ebenfalls Unabhängigkeit von Kolonialherrschaft, aber gleichzeitig eine demokratische Zukunft und individuelle Grundrechte wünschte. Hasan al-Bannā formulierte das Ziel der Organisation in fünf Leitsätzen, die bis heute gelten: „Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Dschihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch.“

      Ab den 1940er-Jahren etablierte die Muslimbruderschaft einen militärischen Arm. Dieser führte eine Reihe von Anschlägen durch, die 1948 zu einem Verbot der Bruderschaft führten. Im folgenden Jahr wurde Hasan al-Bannā von unbekannten Tätern ermordet. 1952 unterstützten die Muslimbrüder den Putsch der sogenannten „Freien Offiziere“ unter Gamal Nasser. Mehrere der Offiziere gehörten der Bruderschaft an, darunter auch der spätere Präsident Sadat. Doch schon bald nach der Machtergreifung kam es zu ersten Zerwürfnissen zwischen Nasser und der Bruderschaft. Schließlich wurde die Bruderschaft 1954 neuerlich verboten. Nach einem kurz darauf gescheiterten Attentat auf Nasser setzten massive Verfolgungen der Muslimbrüder ein. Unter anderem landete ihr wichtigster Vordenker, Sayyid Qutb, im Gefängnis, wo er seine einflussreichen Hauptwerke verfasste.29

      Diese Ereignisse sind für die Ausbreitung des Islamismus in Westeuropa von entscheidender Bedeutung, denn in der Folge flüchteten zahlreiche Anhänger der Muslimbruderschaft nach Europa oder in die USA und wurden dort als politische Flüchtlinge anerkannt. Als Nassers Stern 1967 nach der desaströsen Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg sank, begann der neuerliche Aufstieg der Muslimbruderschaft in Ägypten. Der Nasserismus und der Panarabismus waren gescheitert. Die Muslimbruderschaft versuchte fortan, trotz eines nach wie vor bestehenden Verbots, auch die Universitäten und mit ihnen die städtischen Eliten zu erreichen, und es gelang ihr, Teile des Bildungsbürgertums für sich zu gewinnen.30

      In Pakistan leitete der islamistisch eingestellte General Zia ul-Haq nach einem Militärputsch 1977 die schrittweise Islamisierung des Landes ein. Die Scharia wurde zur Grundlage des Strafrechts. Das Ergebnis dieses Islamisierungsprozesses können wir im heutigen Pakistan beobachten, wo die beispiellose Verfolgung und Ermordung Andersgläubiger und Andersdenkender durch Justiz und einen regelmäßig aufgebrachten Mob an der Tagesordnung sind, wie nicht zuletzt der traurige Fall der Christin Asia Bibi zeigt.31

      Als eigentliches Fanal für die Ausbreitung des Islamismus können drei Ereignisse des Jahres 1979 gelten:

      • Anfang des Jahres kehrte der im Pariser Exil lebende Ajatollah Khomeini in den Iran zurück und stellte sich an die Spitze der Aufstandsbewegung gegen den Schah. Das war der Startschuss für die islamische Revolution, in deren Folge Khomeini die Islamische Republik Iran ausrief.

      • Im November besetzten bewaffnete Islamisten die Große Moschee in Mekka und riefen zu Aufständen in der gesamten islamischen Welt auf.

      • Im Dezember marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein, um die kommunistische Führung des Landes an der Macht zu halten.

      Die Revolution im Iran blieb nicht ohne Auswirkungen auf die restliche islamische Welt und die dortigen islamistischen Kräfte. Die Erfahrung, dass Widerstand erfolgreich sein und die Islamisierung von Staat und Gesellschaft gelingen kann, sollte fortan fester Bestandteil des innerislamischen Diskurses sein.32

      In der sunnitischen Welt sah man den schiitischen Iran zwar als religiösen Gegner, galt der Schiismus doch als häretische Strömung, aber die Tatsache, dass es ausgerechnet diesem gelungen war, einen islamischen Staat und ein „islamisches Gemeinwesen“ aufzubauen, schuf einen zusätzlichen Anreiz für sunnitische Islamisten. Die heute weitgehend in Vergessenheit geratene Besetzung der Großen Moschee in Mekka durch 500 schwer bewaffnete Islamisten nur wenige Monate nach dem Sturz des Schahs von Persien kann als erste sunnitisch-islamistische Reaktion auf die Ereignisse im Iran gelesen werden. Ziel war der Sturz des saudischen Königshauses und ein die gesamte islamische Welt umfassender islamischer Staat. Die Aufständischen riefen alle Muslime dazu auf, in ihren Ländern dem Islam und seiner Rechtsordnung zum Durchbruch zu verhelfen, die diplomatischen Beziehungen zum Westen abzubrechen und die Öllieferungen an die USA einzustellen. Diese Forderungen entsprachen fast wörtlich den Ideen, die der islamische Rechtsgelehrte und Gründer der islamistischen Hizb ut-Tahrir, Taqī ad-Dīn an-Nabhānī (1904–1978), in seinem programmatischen Hauptwerk „Die Ordnung des Islam“ (Nizam al-Islam)33 festgelegt hatte – einem Verfassungsentwurf für einen islamischen Staat, der unter Islamisten bis heute diskutiert wird.

      Die Besetzung der Moschee konnte von der saudischen Regierung letztlich nur mithilfe französischer Spezialkräfte und nach zweiwöchigen schweren Kämpfen beendet werden.

      Der

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