Tragödie im Courierzug. Uwe Schimunek
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Читать онлайн книгу Tragödie im Courierzug - Uwe Schimunek страница 3
Ferdinand stapfte um die Sträucher herum, bis er eine Lücke im Geäst fand. Dann trat er eine Schneise ins Gesträuch. Die Äste splitterten zur Seite. Dennoch kam er dem Ziel nur langsam näher. Zudem ließ er Vorsicht walten. Wenn hier tatsächlich eine Leiche lag, wollte er keine Spuren verwischen. Also kämpfte er sich mit Geduld vorwärts. Die restlichen Teile des Gehölzes entfernte er mit der Klinge. Er beugte sich nach vorn, und es gelang ihm, die Schneedecke von hier aus mit dem Degen zu entfernen.
Unter dem Weiß bot sich ihm ein grauenhafter Anblick. Da lag ein Schädel. Die Augenhöhlen waren leer, und doch schienen die schwarzen Löcher zum Himmel zu starren. An den Seiten des Kopfes erinnerten die Haarsträhnen an modriges Stroh. Die Wangen waren eingefallen, der Mund war fratzenhaft verzerrt und schien sich nicht entscheiden zu können, ob er grinsen oder die Zähne fletschen wollte. Ferdinand schluckte und sagte: »Kommen Sie, Quappe. Das müssen wir melden!«
Oberst-Lieutenant Christian Philipp von Gontard betrat den Hörsaal in der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule. Die dicken Wolken über Berlin verdunkelten den Raum und ließen die jungen Offiziere an den Studierbänken grau und damit um einiges älter erscheinen. Gontard wollte lieber nicht wissen, wie er selbst aussah. Der Winter raubte ihm die Lebensfreude, von Jahr zu Jahr mehr. Und bis zum Frühling blieben wenigstens noch zwei Monate.
Die Offiziere standen stramm. Gontard gab den Befehl zum Setzen, und die Männer fielen in sich zusammen, als hätte jemand die Luft aus ihnen herausgelassen. Einer in der letzten Reihe, ein dicklicher Kerl von altem Adel aus dem pommerschen Hause derer von Ahlewitz, gähnte sogleich. Das konnte ja eine heitere Vorlesung werden!
Gontard schlug sein Skript auf. In letzter Zeit hielt er sich bei den Vorlesungen immer mehr an seine Blätter, besonders an Tagen wie diesen. Er strich über das oberste Blatt und begann seinen Vortrag. »Wie Sie wissen, soll es heute um den Einsatz neuartiger Waffen in Sinope am Schwarzen Meer gehen. Mit den Bombenkanonen, die der französische General Paixhans konstruiert hat, haben die Russen im November des vergangenen Jahres die Seeschlacht gegen die Osmanen für sich entschieden.« Gontard referierte über die eingesetzten Geschosse, die ein Kaliber von knapp einer Elle aufwiesen. Ihre glattläufigen Rohre hatten sogar eine Länge von bis zu zehn Fuß. Ahlewitz gähnte erneut. »Können Sie die Verwendung der Waffen bei Sinope näher erläutern, Herr Lieutenant?«
Ahlewitz schreckte hoch, als habe ihn jemand in den Rücken gepikt. Das hätte Gontard dem vierschrötigen Kerl gar nicht zugetraut. Das Gestammel, das der junge Offizier von sich gab, stand allerdings in erheblichem Widerspruch zu seiner aufrechten Körperhaltung. »Kann jemand helfen?«, erlöste Gontard den armen Kerl.
Lieutenant Colder aus der ersten Reihe sprang auf und ergriff das Wort. Augenscheinlich hatte er nur darauf gewartet, sein Wissen zum Besten zu geben. »Die französischen Sprenggranaten der Russen haben die osmanischen Schiffe reihenweise in Brand gesetzt. Mehrere explodierten, andere wurden auf die Felsen getrieben.« Colders Worte klangen ihrerseits, als seien sie mit Kanonen abgeschossen. Die Rede hatte der junge Mann sicher auswendig gelernt. »Innerhalb von nur zwei Stunden waren sämtliche Schwadronen der Osmanen vernichtend geschlagen. Lediglich ein einziges Schiff konnte sich der Vernichtung entziehen und rettete sich gen Konstantinopel.«
»Sehr gut, Lieutenant Colder.« Gontard sprach betont langsam. Besonders Junkerssprösslingen von den großen Landgütern im Osten des Preußenreiches fiel es häufig schwer, allzu flotten Vorträgen zu folgen. Ahlewitz glotzte prompt wie ein Ochse.
»Das Gefecht bei Sinope war die erste Seeschlacht, bei der Sprenggranaten in so großem Umfang eingesetzt wurden«, fuhr Colder unbeirrt fort. »Durch den Erfolg der Russen lässt sich prognostizieren, dass künftige Kämpfe zur See regelmäßig mit diesen Waffen ausgefochten werden.«
Besser hätte Gontard es auch nicht sagen können. Colder schaute ihn an wie ein Rappe, der nach einem gelungenen Sprung auf ein Stück Zucker wartete. Gontard war lange genug sowohl Reiter als auch Lehrer, um zu wissen, dass eine kleine Gratifikation fällig war. So sagte er: »Ich danke Ihnen für Ihre vorzüglichen Ausführungen, Herr Lieutenant Colder. Daran können Ihre Kommilitonen sich ein Beispiel nehmen. Mit Ihrem Fleiß werden Sie es in der Armee Seiner Majestät weit bringen.« Das war eine Übertreibung an der Grenze zur Lüge, das wusste Gontard. Für eine große Karriere beim Militär fehlte Colder der Adelstitel. Der Junge müsste sich das »von« vor dem Nachnamen schon durch eine Heirat beschaffen. Aber selbst das würde nur helfen, wenn die Erwählte aus einer Familie mit besten Kontakten zum Militär stammte. Eher würde dieser träge Fettsack von Ahlewitz höhere Positionen einnehmen.
Gontard lobte den Fleiß bürgerlicher Studenten eigentlich nur, um Dummköpfe wie den hier in der letzten Reihe zu reizen. Tatsächlich schnappte Ahlewitz nach Luft wie ein Fisch. Gontard verkniff sich ein Grinsen. Er kehrte zum Thema seiner Vorlesung zurück und referierte über die Bedeutung der Telegraphie für den noch jungen Krimkrieg. Vor nicht einmal einem Vierteljahr hatten die Osmanen den Russen den Krieg erklärt, in Sinope war es zur besagten Seeschlacht gekommen. Derzeit zogen die Diplomaten der europäischen Mächte im Hintergrund ihre Fäden, dazu brauchte es vor allem genaue Informationen.
Colder meldete sich, kaum dass Gontard eine längere Atempause eingelegt hatte, und fragte: »Werden wir in diesen Krieg eingreifen, Herr Oberst-Lieutenant?«
Da stellte der junge Mann vielleicht eine Frage! Gontard kramte in seinen Papieren auf dem Pult, in denen selbstverständlich keine Antwort stand. Aber es verschaffte ihm Zeit. »Ich denke, auch unsere Diplomaten werden die Verhandlungen genau verfolgen und alle Seiten unter strikter Beobachtung halten.« Gontard sah auf. Ein paar Studenten folgten seinen Ausführungen, die meisten aber räkelten sich in ihren Bänken. Ausgerechnet Ahlewitz blies seine Backen auf wie ein Frosch. Bald hatte der Kerl das ostpreußische Tierreich durch. Laut fragte Gontard: »Sie möchten etwas zum Thema beitragen, Lieutenant von Ahlewitz?«
Erneut schoss der Dicke in der letzten Reihe hoch. »Mein Vater sagt, dass es sich für eine Großmacht wie unser glorreiches Königreich nicht geziemt zu kuschen.«
Gontard wusste von den konservativen Kräften im Militär, die Preußen gern an Russlands Seite im Krieg gesehen hätten. Vorerst sah es aber nicht danach aus, als könnten diese Männer beim König viel ausrichten. »Seine Majestät hat die Neutralität unseres Landes allseits zugesichert. Bitte erarbeiten Sie bis zur nächsten Woche einen Vortrag, in dem Sie denkbare Ereignisse darlegen, die Seine Majestät von diesem Standpunkt abbringen könnten! Sie haben zu Beginn der nächsten Stunde zehn Minuten Zeit für Ihre Darlegungen, Lieutenant von Ahlewitz.«
Ach, die alte Tante Voss … Gontard saß in seinem Bureau und legte die Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, wie die Vossische ganz offiziell hieß, auf den Schreibtisch und blätterte weiter. Den riesigen Artikel über den neuen preußisch-dänischen Postvertrag hatte er nur überflogen. Bestimmt gab es Geschäftsleute, die sich sehr dafür interessierten, dass ein Brief zwischen Berlin und Kopenhagen fünf Groschen kostete. Gontard kannte niemanden in der dänischen Hauptstadt. Seine Groschen brachte er auch fürderhin lieber in die Schankwirtschaft.
Auch die nächsten Spalten las er nur flüchtig. Die Kohlenausbeute der preußischen Bergwerke nimmt sowohl in Schlesien als am Rhein mit jedem Tage zu. Nach den Meldungen der letzten Tage über dramatisch steigende Getreidepreise schien sich zumindest hier etwas in die richtige Richtung zu entwickeln. Inmitten der Nachrichten entdeckte er die Armenstatistik des Königreichs. Gontard wollte schon weiterblättern, blieb dann aber bei der Zahl von 567 659 Almosenempfängern hängen. Über eine halbe Million, das war halb Berlin – oder mehrmals Breslau. Die Summe aller in diesem Jahre zur Unterstützung der Armen verausgabten Gelder belief sich auf 5 481 317 Thlr. 8 Sgr. 9 Pf. Das waren unvorstellbare Mengen Geld. Wie zu erwarten, fand man die Armen vor allem in den großen Städten vor. Gontard