Tragödie im Courierzug. Uwe Schimunek
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»Später, Quappe«, sagte Ferdinand. »Vorerst bleiben Sie hier sitzen! Und ich schaue mich noch mal im Dickicht um.«
»Sein Se vorsichtig!«
Ferdinand lachte und hob die Hand zu einem militärischen Gruß. Für den Weg zurück zum Gestrüpp nutzte er die bereits in den Schnee gedrückten Spuren. Als er den verletzten Quappe zum Stamm geschleppt hatte, war ein richtiger Pfad entstanden. Am Rande der Hecke untersuchte Ferdinand die Wehe näher, in der Quappe versunken war. Mit festen Stiefeltritten stieß er den Schnee beiseite. Darunter verbargen sich eine Kuhle oder ein Graben. Der Boden war braun und hart. Der Schnee stob unter Ferdinands Tritten in alle Richtungen. Jetzt erkannte Ferdinand, dass weder Kuhle noch Graben zu seinen Füßen lagen, sondern eher eine Art Trampelpfad.
Der Pfad führte in das Gestrüpp. Ferdinand kämpfte sich vorwärts. Vorsichtshalber schob er den Schnee vor jedem Schritt beiseite. In seinem Rücken jammerte Quappe schon wieder herum, und zumindest einer sollte gut zu Fuß bleiben. Nach ein paar Schritten gabelte sich der Pfad: Nach rechts führte er in den Wald hinauf, links teilte er die Sträucher. War der Mann an dieser Stelle ins Gebüsch gelangt? Ferdinand folgte dem Pfad ins Innere des Gestrüpps. Nach drei Schritten musste er sich bücken, da die Äste im Wipfel ineinandersteckten und eine Art Dach bildeten.
»Is allet jut bei Ihnen?«
»Ja!«, rief Ferdinand über die Schulter. »Von hier hinten müsste ich an die Leiche herankommen.«
»Sein Se achtsam!« Quappe wimmerte ohne Unterlass.
»Ja, ja.« So kurz vor dem Ziel hatte Ferdinand keine Zeit für die Sorgen des Stallburschen. Er brach ein paar nach unten ragende Äste ab und quetschte sich weiter durch das Gestrüpp. Drei Fuß vor der Fundstelle häufte sich Schnee an einem Strauch. Für ein bisschen Laub darunter war der Batzen zu groß. Ferdinand trat vorsichtig gegen den Schnee. Grobes Gewebe kam zum Vorschein. Ein Kleidungsstück? Ferdinand bückte sich und zog vorsichtig an dem Stoff. Der steckte fest. Als Ferdinand kräftiger zerrte, riss das Gewebe, und er hielt einen Fetzen in der Hand. Der Lappen war lehmbraun und augenscheinlich vermodert, bevor der Frost ihn unter dem Laub eingefroren hatte. Nun zerfiel das Textil bei der geringsten Beanspruchung. Er musste auf anderem Weg an das mutmaßliche Kleidungsstück herankommen. Vorsichtig legte Ferdinand seinen Fund mit den Händen frei. Weiter unten schien der Stoff besser erhalten zu sein. Es handelte sich um einen Waffenrock, das wurde immer deutlicher. Unter einem Ärmel lugte eine Pickelhaube hervor.
Christian Philipp von Gontard genoss die Ruhe in der Lesestube der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule. Nur ein weiterer Offizier saß am anderen Ende des Raumes und studierte schweigend eine Zeitschrift. Gontard hielt seine Pfeife in der linken und die Illustrirte Zeitung in der rechten Hand. Das Blatt aus dem sächsischen Leipzig schaffte Wundersames: Es wurde von Männern und Frauen gelesen. Gontard fesselten die langen Texte über politische, militärische und technische Themen, während die Abbildungen der neuesten Mode aus ganz Europa Henriette und seine Tochter gleichermaßen begeisterten. Dabei war die Illustrirte Zeitung keines dieser billigen Familienblätter, wie es die Kolporteure feilboten.
Gontard blätterte auf die zweite Seite, die den Nachrichten aus deutschen Landen und Europa vorbehalten war. Über Preußen gab es in dieser Woche nur einen kleinen Absatz. Gontard las: Die Festzeit hat eine politische Stille im Gefolge, die nur durch Gerüchte, Muthmaßungen und Besprechungen unterbrochen wird, welche wir übergehen müssen. In der Folge behandelte der Nachrichtenüberblick den Tod des Generals von Radowitz und ging auf den persönlichen Kondolenzbrief Seiner Majestät ein. Dass der Leichnam des Generals nach Erfurt überführt worden war, wusste Gontard schon. Dort diente Radowitz’ ältester Sohn als Offizier beim 31. Infanterieregiment, und in der Garnisonsstadt konnte der alte Radowitz seine Ruhe neben der bereits zuvor verstorbenen Tochter finden.
Danach berichtete der Absatz zu Preußen über einige Wirtschaftsangelegenheiten. Gontard überflog die Zeilen bis zu diesem Satz: Ein Erlass des einstweiligen Polizeidirektors in Stettin, Assessor Rudolff, wodurch der Ostseezeitung sehr enge Grenzen bei der Besprechung des russisch-türkischen Streits gesetzt worden waren, ist vom Minister des Inneren nicht gebilligt worden. Gontard stutzte. Innenminister Ferdinand von Westphalen galt weiß Gott nicht als Garant für Pressefreiheit. Sein Ministerium unterhielt das berüchtigte preußische Spitzelwesen. Gerüchten zufolge ließ er sogar Prinz Wilhelm wegen dessen kritischer Haltung zum Krimkrieg überwachen. Ausgerechnet dieser Minister sorgte nun dafür, dass die Stettiner ausgewogen informiert wurden – das war kaum zu glauben.
Gontard las in diesen Wochen die Illustrirte Zeitung aus dem Sächsischen intensiver als sonst, weil sie über die Krim berichtete. Er blätterte um, und sogleich begannen die ausführlichen Reports. Unter der Überschrift Vom Kriegsschauplatze fasste das Blatt die letzten Ereignisse zusammen: die Geländegewinne der Russen bei Poschow und unweit von Eriwan, die Hoffnung der Türken auf die Erhebung der Tschetschenen im Kaukasus, die Truppenkonzentration und einzelne Gefechte an der Donau, die Verschiebung von russischen Armee-Einheiten in die Walachei … Allerorten standen sich gigantische Truppen gegenüber, so verzeichnete der Bericht auf türkischer Seite allein längs der Donau und außer den stark besetzten Positionen von Schumla und Varna 123 000 Mann, während die Russen nur 110 000 zählen, bei einem Angriffe aber auf einem Punkte leicht mehr Truppen concentriren können, als ihnen der Feind dort gegenüber zu stellen hat. Welch ein Irrsinn, wie viele dieser Soldaten mit Hilfe der modernen Waffentechnik verheizt wurden!, dachte Gontard. Dafür hatten deutsche Dichter Shakespeares Wendung food for powder mit dem viel treffenderen Begriff Kanonenfutter übersetzt und in die deutsche Sprache aufgenommen.
Nach dem Überblick befasste sich die Illustrirte Zeitung mit der Schlacht von Oltenitza und dem Seekampf vor Sinope en détail. Mehr noch als der Text faszinierte Gontard die halbseitige Abbildung der Flottenverbände auf dem Schwarzen Meer. Das Bildnis war aus einer Perspektive von der offenen See her gefertigt. Im Vordergrund hatten mehrere Dutzend Kriegsschiffe die Segel gesetzt, zwischen den gewaltigen Dreimastern kreuzten kleinere Schiffe und auch eine Handvoll Boote mit Männern an den Rudern. Im Hintergrund, zu Lande, ragte die Festung von Sinope in die Höhe und sah imposanter aus als das Gebirge am Horizont.
Der Krieg war nicht nur durch die Flotte sichtbar, sondern schlich sich auch in Weiß ins Bild: in Form von Qualm. Die weißen Wolken auf dem Bild krochen über die spiegelglatte Wasserfläche wie die pure Unschuld. Die schiere Größe ließ allerdings auf den Schrecken gewaltiger Explosionen schließen. Gontard fuhr ein Schauer über den Rücken. Hinter der erhabenen Darstellung ahnte er den Tod in einer neuen, industriellen Form. Die Wolken auf dem Bild nahmen den armen Seelen das Gesicht und ließen sie im Zahlenwerk der Berichte verschwinden. Auch aus den Schornsteinen der Fabriken und Lokomotiven entwich solcher Qualm. Die neuen Formen von Krieg, Arbeit und Verkehr versteckten Schweiß und Blut zugunsten von Bilanzen …
Der Sergeant des Schuldirektors trat herbei und beugte sich zu ihm hinunter. »Der Herr Generaloberst von Schnöden würde Sie jetzt empfangen.«
»Ick würde jetzt lieber nach Hause jehn«, quengelte Quappe.
»Wir nehmen nur diesen winzigen Umweg und befragen die Männer dort«, bestimmte Ferdinand von Gontard und zeigte zum Oderufer. Gleich neben einem Wellenbrecher saßen zwei Angler und guckten über ihre Ruten auf den Fluss.
»Muss det sein?«
»Nun machen Sie mal halblang, Quappe! Wenn ich Sie erst nach Hause bringe und dann wiederkomme, sind die beiden Männer sonst wo.«
Quappe stützte