Der kalte Engel. Horst Bosetzky

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Der kalte Engel - Horst Bosetzky

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hinunter, war der endlich gefunden. Die Beute war gemacht, wenn der Hebel auf die Walze schlug und seinen Abdruck hinterließ. Blau oder schwarz, je nach eingelegtem Farbband. Sofern es kein älteres Modell mit verdeckter Walze war. Schrieb sie zu schnell, verhakten sich die Typenhebel und mussten vorsichtig wieder voneinander getrennt werden. Hatte sie Pech und verbog sie die dabei, hing Günther Beigang, der Chef, vor Wut an der Decke. Da war also Vorsicht geboten. Auch wenn sie zu viel radierte und die Maschinen, die den Kunden vorgeführt wurden, dadurch unansehnlich wurden. Sie war 46 Jahre alt, fast 1,65 Meter groß und von kräftiger Gestalt, hatte braune Augen und rotbraun gefärbte Haare und ließ beim Lachen eine Goldkrone blitzen.

      Schreibmaschinen-Beigang war seit fast 25 Jahren eine gute Adresse. Das Geschäft lag in der Linkstraße, einer nicht unwichtigen Verbindung zwischen Reichpietschufer und Potsdamer Platz, die allerdings im Krieg überdurchschnittlich stark gelitten hatte. Die Hausnummern gingen von 1 bis 46, und zerstört waren die Häuser 1 bis 15, 17, 20, 22 und 25. Neue Schreibmaschinen waren Mangelware, denn überall lagen die Fabriken in Schutt und Asche. Von »Olympia« in Wilhelmshaven hieß es, dass die Produktion erst wieder 1951/52 anlaufen werde. Aber Beigang hatte so seine Verbindungen zu Händlern, die Maschinen über die Zonengrenze schmuggelten. In der DDR, wo man in Sömmerda schon wieder arbeitete, kostete eine Reiseschreibmaschine vom Typ Erika mit Kunstlederkoffer an die 350 DM-Ost. Beigang bekam sie für 250 DM-West, was für den, der sie über die Grenze gebracht hatte, beim Tageskurs von etwa 1:6 eine hübsche Summe einbrachte, für die er dann viele neue Ost-Maschinen kaufen und verscherbeln konnte …

      Der wichtigste Kunde an diesem Tag war der Inhaber eines kleinen Verlages in der Potsdamer Straße. Nicht weil Dorothea Merten beim Verkauf einer Schreibmaschine mehr eine Provision bekommen hätte oder vom Chef besonders gelobt worden wäre, behandelte sie ihn mit besonderem Vorrang, sondern wegen der besseren Chancen für ihren großen Roman, wenn er denn zu Ende geschrieben worden war.

      Der Verleger war am Klagen. »Wir haben Autoren, die liefern ihre Manuskripte in einem Zustand ab … Ich kann Ihnen sagen! In Sütterlin und mit Kopierstift geschrieben. Wenn ich damit zum Setzer gehe, tritt der in’n Streik. Also muss ich eine meiner Damen bitten, das Ganze vorher abzutippen. Was die aber sehr ungern tun …« Er warf einen prüfenden Blick zu ihr hinüber. »Wenn Sie sich nach Feierabend ein paar Mark dazuverdienen möchten …«

      »Das schon, aber ich schreibe selber …« Dorothea Merten errötete. Als würde sie jemandem ganz verschämt ihre Liebe eingestehen.

      Der Verleger lachte. »Was schreiben Sie denn: Rechnungen, Mahnungen?«

      »Nein: kleine Geschichten … und jetzt einen Roman.«

      »Oh … Wenn Sie mir das nötige Papier dafür mitliefern, drucke ich ihn gern. Haben Sie diesbezügliche Beziehungen zu Alliierten?«

      Dorothea Merten war zutiefst verwirrt. »Nein, ich … Es ist die Geschichte der Laubenkolonie, in der ich aufgewachsen bin. Eine Familie wird ausgebombt und wohnt dann da … Im Baumschulenweg. Daher kommt dann auch der Titel: Kolonie Südpol … Es ist eine Liebesgeschichte, die …«

      »Machen Sie mal …« Der Verleger gab sich jovial. »Ich lese’s gerne mal, wenn es fertig ist.«

      Als er gegangen war, kam ihr Chef zu ihr und sah sie tadelnd an. »Bitte, Fräulein Merten, Sie verscheuchen mir ja die Kunden. Der Herr Doktor Düker kommt doch bestimmt nicht wieder, wenn Sie ihn mit Ihren Anliegen behelligen.«

      »Entschuldigung, aber …«

      »Ich möchte das nicht noch einmal erleben.«

      »Jawohl, Herr Beigang.«

      Der Chef war nicht gut auf sie zu sprechen, nachdem sie ihn mehrmals abgewiesen hatte. Obwohl er immer wieder beteuerte, wie glücklich er mit seiner Erna sei und gerade erst silberne Hochzeit gefeiert hatte, wollte er ihr in einem fort an die Wäsche. Ihre Schwester sagte immer: »Der sollte Beischlaf heißen und nicht Beigang.« Da er im Krieg einen Arm verloren hatte, den rechten noch dazu, konnte sie sich aber immer schnell wieder befreien, wenn er sie zu umarmen suchte. Zudem hatte er ein Glasauge, das immer herauszufallen drohte, wenn er allzu stürmisch wurde. Nun ja, sie konnte froh sein, überhaupt Arbeit zu haben. An sich war sie gelernte Buchhalterin, aber da es im Schreibmaschinenladen nicht viel zu verbuchen gab, war sie zumeist als Verkäuferin im Einsatz. Kinder hatte sie keine, verheiratet war sie zwar, lebte aber von ihrem Mann getrennt, wenn auch noch in derselben Wohnung. Doch insgesamt war sie alles andere als depressiv. Krieg und Blockade waren zu Ende, sie hatte überlebt und sie konnte jeden Abend in andere Welten flüchten, wenn sie zu Hause an ihrer alten Maschine saß und schrieb.

      »Feierabend!« Punkt 18 Uhr gab ihr Beigang die Weisung, die Jalousien herunterzulassen. Das Geschäft konnte sie dann nur noch durch Hintertür und Flur verlassen. Zu Zeiten der Stromsperren war das immer grässlich gewesen, nun aber, da die Birnen alle wieder brannten, genoss sie es. Sie wohnte in Spandau, in der Pichelsdorfer Straße, doch heute ging es nicht nach Hause, sondern zu ihrer Schwester nach Weißensee hinaus. Der Adventskaffee war nachzuholen.

      Ilse zuliebe fuhr sie nicht mit der S-Bahn vom Potsdamer Platz nach Weißensee, sondern setzte sich in die 74. Ihre Schwester war Fahrerin bei der Straßenbahn, stationiert auf dem Betriebshof Treptow/Elsenstraße der BVG-Ost, der BVB. Die Sache war außerordentlich kompliziert. Seit dem 20. März 1949 galt in Berlin-West nur noch die D-Mark als Zahlungsmittel, und auf den durchgehenden Linien wechselten deshalb an den Sektorengrenzen die Schaffnerinnen und Schaffner. Die Wagenführer hingegen blieben dieselben. Saß Ilse Breitenstein in den Wagen der Linie 3 an der Kurbel, die eine solche Gemeinschaftslinie war, so fuhr sie von Treptow/ Elsenstraße (Ost) zur Seestraße (West) und erlebte den besagten Schaffnerwechsel an der Bösebrücke. Sie erzählte viel von dem, was sie im Dienst erlebte, denn Straßenbahn, das war ihr Leben. Es ging schon los, kaum dass sie sich begrüßt hatten.

      »Am liebsten fahr’ ich ja auf den Verbundzügen, die mit dem Mitteleinstieg – TM 31, 33 und 36 –, weil die immer schnell anziehen, neulich hab’ ich aber mal wieder ’n T 33 U abbekommen – ›Stube und Küche‹ …« Diese Triebwagen hießen bei den Berlinern so, weil ihr großer Innenraum durch eine Mitteltür in ein größeres Abteil für Nichtraucher (die Stube) und ein kleineres Abteil für Raucher (die Küche) unterteilt war. »… morgens, alle auf dem Weg zur Arbeit, und alle hatten’s eilig. Aber fast nur Raucher an Bord … und das Raucherabteil in Fahrtrichtung vorn. Ich rufe immer wieder: ›Durchtreten bitte, sonst kippen wir!‹ Doch die Leute sind stur. Und was passiert? Erst wippt der Wagen, dann knallt mir der Fangkorb auf die Schienen und verhakt sich da … Aus und vorbei.«

      Dorothea Merten liebte ihre Schwester. Ilse war drei Jahre älter als sie und das, was die Berliner einen Gemütsathleten nannten. Waldemar, ihr Mann, war noch immer in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und arbeitete irgendwo bei Workutsk in den Wäldern. Ihre Schwiegermutter kam jeden Tag vorbei, um die beiden Kinder zu versorgen, Jörg und Hannelore. »Uns geht’s eigentlich ganz gut. Wenn’s uns besser ginge, wär’s kaum auszuhalten.« Mit Walter Ulbricht und der SED hatte sie keine Schwierigkeiten. »Die tun mir nischt, und ick tu’ ihnen nischt.« Was sie am Arbeiter-und-Bauern-Staat so schätzte, war ganz einfach: »Bei die haben wir Frauen noch die meisten Chancen. Im Westen sitzen nur Männer anne Kurbel.« Wenn sie sich Mühe gab, konnte sie auch richtig Deutsch, doch warum sollte sie sich Mühe geben, wenn sie bei sich zu Hause an der Kochmaschine saß und Muckefuck trank. »Da könn’n se mir ma alle.«

      Für Dorothea Merten war Ilse schon immer die Glucke gewesen, und so fühlte sie sich auch heute pudelwohl bei ihr. Erst einmal wurde tüchtig geklatscht und getratscht.

      »Wat macht’n Rudi? Hockta noch imma bei dir rum?«

      »Ja, aber nur, weil er keine

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