Franziskus. Esther-Marie Merz
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María Elena Bergoglio lebt in Ituzaingó, einer kleinen, malerischen Stadt rund sechzig Kilometer außerhalb von Buenos Aires. In den ersten Tagen und Wochen nach der Papstwahl am 13. März 2013 hatte sich die kleine Straße Darragueyra in eine Art Treffpunkt für zahlreiche nationale und internationale Journalisten verwandelt. Seither steht ein Polizeiauto an der Straßenkreuzung – ein mögliches Indiz, dass hier die Schwester des Papstes leben könnte. Hausnummer 785, kein Namensschild an der Haustür, zugezogene Gardinen an den Fenstern. Die Türklingel wird von energischem Hundegebell übertönt. Ein junger Mann öffnet die Tür – es ist der Neffe von Jorge Mario Bergoglio.
Es ist kühl und nebelig an diesem Tag, die hohe Luftfeuchtigkeit hat bereits im Wohnzimmer von María Elena Bergoglio Einzug gehalten. In einen warmen Poncho gehüllt bemerkt diese: „Heute ist es ungewöhnlich kalt, nicht wahr?“ Der große Holztisch bildet das Zentrum des Raumes, der als Ess- und Wohnzimmer dient. Ein paar einfache Sitzgelegenheiten, eine kleine Kommode, auf der einige eingerahmte Familienfotos stehen, und ein kleiner Ecktisch mit einem alten Fernseher füllen den Raum. An der kalt und klamm wirkenden Wand hängt ein auffallend großes Bild, auf dem Papst Franziskus mit einem strahlenden Lächeln vor einem hellblauen Hintergrund abgebildet ist. „Das haben mir Freunde aus Rom mitgebracht“, erklärt María Elena stolz, jedoch mit einem beinahe rechtfertigenden Unterton.
Als sie ihrem Bruder mitteilte, dass sie zu seiner Amtseinführung nach Rom fliegen wollte, habe er ihr gesagt: „Du wirst mehr von mir sehen und von mir haben, wenn du die Zeremonie am Fernsehbildschirm verfolgst. Wir werden in diesen Tagen keine Zeit miteinander verbringen können.“ María Elena Bergoglio flog nicht nach Rom. Jeden Samstag telefoniert sie mit ihrem ältesten Bruder. Momente, in denen sie über alles Mögliche miteinander sprechen können. Momente, in denen zwei Geschwister sich über ihr Leben austauschen.
Das letzte Mal sahen die beiden sich am Heiligen Abend 2012. Vor seiner Abreise nach Rom Ende Februar 2013 rief er sie noch einmal an, um sich zu verabschieden. „Bis in zwei Wochen“, sagte er ihr. Es sollte anders kommen, denn wann sie sich nun wiedersehen werden, wissen sie nicht. María Elena erklärt: „Ich vermisse ihn sehr. Bis heute haben mir die Journalisten kaum Zeit gelassen, alles, was geschehen ist, zu verarbeiten.“ Und dann kann sie ihre Emotionen nicht mehr zurückhalten und beginnt zu weinen.
María Elena ist 65 Jahre alt, sie war das Nesthäkchen in der Familie Bergoglio. An das gemeinsame Zusammenleben mit ihrem älteren Bruder hat sie wenige Erinnerungen. „Er zog ins Priesterseminar von Villa Devoto in Buenos Aires, als ich neun Jahre alt war“, erklärt sie. In einer minutenlangen Stille scheint sie ihren Kindheitserinnerungen nachzugehen. Dann sagt sie plötzlich: „Jorge war immer fröhlich und gut gelaunt“, und fast stolz fügt sie hinzu: „Er hatte stets einen sehr ausgeprägten Beschützerinstinkt.“
Trotz der geografischen Distanz, die beide Geschwister ihr Leben lang trennte, pflegte Jorge Mario Bergoglio stets einen engen Briefkontakt zu seiner kleinen Schwester. In einem der Briefe, so erinnert sich María Elena, bat er sie um Unterstützung bei seiner Arbeit als Priester. Sie solle lernen, dankbar dafür zu sein, dass sie – im Gegensatz zu vielen anderen – keinen Hunger oder Kälte erleiden müsse. Er bat sie auch, jeden Tag den Rosenkranz zu beten, und sie befolgte seine Bitte. Bis heute, so erzählt María Elena, bewahre sie die Briefe ihres Bruders auf.
Der Familienzusammenhalt der Bergoglios war sehr stark. Sowohl für ihren ältesten Bruder als auch für María Elena selbst spielte vor allem die Großmutter Rosa María Vasallo eine bedeutende Rolle. Sie verbrachten viel Zeit bei den Großeltern, erklärt María Elena und beschreibt ihre abuela – Großmutter – mit folgenden Worten: „Sie war eine zierliche Person mit einem starken Temperament und viel Energie, die stets gepaart war mit großer Sanftmut.“
Rosa María Vasallo spielte eine entscheidende Rolle in der religiösen Entwicklung ihres Enkels. Sie sei es gewesen, die ihm das Beten beigebracht habe, gibt Jorge Mario Bergoglio seinem Freund Abraham Skorka gegenüber preis. Er erzählt ihm, wie seine Großmutter für ihn als kleinen Jungen oft Verse rezitierte, die er bis heute nicht vergessen habe, wie zum Beispiel den folgenden:
„Mensch, der du voranschreitest, halte inne und denke über deine letzten Schritte nach, denke vor allem an deinen letzten Schritt.“
Seine Großmutter erinnerte ihn auch daran, dass alles ein Ende habe und dass es wichtig sei, Dinge im Guten abzuschließen. „Im Christentum sollte der Tod ein steter Begleiter auf dem Weg sein. Ich denke zum Beispiel jeden Tag daran, dass ich sterben werde, ohne Angst davor zu haben, denn Gott und das Leben haben mich auf diesen Augenblick vorbereitet.“
Rosa María Vasallo hatte ihren Enkeln nicht nur das Beten beigebracht, sondern sie erzählte auch häufig Geschichten von katholischen Heiligen. Und dann verrät María Elena eine der kulinarischen Spezialitäten ihrer Großmutter: gefüllter Tintenfisch. Es sei noch immer ihr Lieblingsgericht, welches ihr Bruder am besten zubereite: „Jorge kocht die gefüllten Tintenfische wie kein anderer!“
Den Wert der Dinge zu schätzen hatte stets Priorität in der Erziehung der Kinder. „Es fehlte uns nie an etwas“, versichert María Elena, „aber wir haben von den Eltern gelernt, sparsam mit den Dingen umzugehen und nichts wegzuwerfen, was noch verwertet werden konnte. Mutter verwandelte die Essensreste des Vortages am darauffolgenden Tag stets in ein neues Gericht, denn Vater aß nicht gerne zwei Tage hintereinander dasselbe Gericht.“
Die Eltern des Papstes, Mario Giuseppe Bergoglio und Regina María Sívori, lehrten ihre fünf Kindern nicht nur sparsam zu sein, sondern auch die Wichtigkeit der Bildung und die Liebe zur Arbeit. Bergoglio erinnert sich im Buch El Jesuita (Der Jesuit), wie ihm sein Vater in dem Augenblick, als er mit der Oberstufen-Ausbildung begann, mitteilte: „Jetzt, da du Oberstufenschüler sein wirst, solltest du auch mit dem Arbeiten beginnen. Ich werde dir in den Ferien einen Job finden.“ So arbeitete der 13-jährige Jorge Mario Bergoglio in einer Strumpffabrik zunächst als Reinigungskraft und später gemeinsam mit seinem Vater in der Verwaltung.
Es war eine lehrreiche Zeit, wie der heutige Papst bekräftigt. Arbeit und Bildung sollten auch in Zukunft das Leben des jungen Bergoglio begleiten. Als er mit siebzehn Jahren seine Ausbildung zum Chemietechniker begann, arbeitete er vormittags in einem Labor und am Nachmittag besuchte er den Unterricht, der bis abends um 8 Uhr ging. Bergoglio bekräftigt im Buch El Jesuita: „Ich danke meinem Vater dafür sehr, dass er mich zum Arbeiten geschickt hat. Die Arbeit ist eines der Dinge gewesen, die mir in meinem Leben stets gut getan haben. Denn letztlich ist es die Arbeit, die einem Menschen Würde verleiht.“ Und dann erläutert Bergoglio, wie der europäische Einwanderer, der damals nach Lateinamerika gekommen sei und oftmals nichts mehr besaß, durch harte Arbeit das heutige Amerika erschaffen habe. Er warnt weiter vor der möglichen Dekadenz, die mit den Kindern oder Enkeln zu kommen drohe, wenn diese nicht den Wert der Arbeit vermittelt bekämen. „In meiner Jugend“, erklärt Bergoglio, „hat der Einwanderer es nicht toleriert, wenn seine Kinder oder Enkel arbeitsscheu waren.“
Bescheidenheit war eine weitere Eigenschaft, die der Familienvater Mario Giuseppe Bergoglio seinen Kindern, neben der Liebe zu Arbeit und Bildung, vermittelte. „Grüße die Leute, wenn du aufsteigst, denn du wirst ihnen wieder begegnen, wenn du absteigst. Bilde dir nie etwas darauf ein, was du machst oder geleistet hast.“ Diese Worte seines Vaters begleiten Jorge Mario Bergoglio noch heute.
Néstor Carabajo ist ein ehemaliger Schulfreund von Bergoglio. Gemeinsam absolvierten sie die Ausbildung zum Chemietechniker. „Wir waren vierzehn, fünfzehn Jahre alt, und schon damals stand Jorge dem Glauben sehr nahe. Keiner von uns hat verstanden,