Mit den Normannen nach England. Uwe Westfehling
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Die Wikinger sind die unmittelbaren Vorfahren jener Völkerschaften, die im weiteren Verlauf der mittelalterlichen Geschichte unter dem Namen Normannen in verschiedenen Bereichen des Abendlandes – und darüber hinaus! – so nachhaltig in den Gang der Ereignisse eingreifen und so spektakulär von sich reden machen werden.
Von der Rolle normannischer Herren im Mittelmeer und im Vorderen Orient wird noch einmal die Rede sein (S. 25 f.). Betrachten wir zuvor die erstaunliche Entwicklung, die sich in einem Gebiet anbahnt, das bis heute den Namen der „Nordmänner“ trägt. Gemeint ist selbstverständlich jene Küsten-Provinz im alten Gallien, also auf dem Boden des einstigen Römischen Imperiums und seiner „Rekonstruktion“, des karolingischen Kaiserreichs, und zwar in jenem Gebiet, das wir nach der Reichsteilung „west-fränkisch“ nennen – und das mehr oder weniger dem heutigen Frankreich entspricht.
Die Normandie – eine neue Heimat
Im Jahre des Herrn 911 geschieht an einem unscheinbaren Ort im westfränkischen Königreich, der den Namen Saint-Clair-sur-Epte trägt, etwas bei erster Betrachtung durchaus Unerwartetes: Ein Mann namens Rollo (auch Rolf oder Hrólf) schließt einen Pakt für den Frieden!
Dabei ist dieser Rollo nach allem, was wir wissen, ein äußerst kriegerischer Mann. Ein kühner und unternehmungslustiger Bursche, der in seinem bisherigen Leben kaum einem Risiko aus dem Weg gegangen ist, wahrscheinlich sogar ein rücksichtsloser Draufgänger, der sich stets genommen hat, was er haben wollte, und der vor Gewaltanwendung nicht zurückgeschreckt ist. Also eher ein blutrünstiger Räuberhauptmann als ein Staatengründer. Einer jener Anführer, unter deren Kommando die gefürchteten „Männer aus dem Norden“ an allen Küsten des Abendlandes geplündert und gemordet haben. Ein „Wikingerfürst“.
Kluge Entscheidung eines „einfältigen“ Königs
Und eben dieser Rollo willigt ein, sein Wort zu verpfänden für eine Abmachung die ihm zweifellos eine drastische Veränderung seiner Lebensweise auferlegt: Er nimmt es auf sich, sesshaft zu werden und einen Herren über sich anzuerkennen – zumindest nominell, auch wenn er möglicherweise ein paar geheime Vorbehalte hat. Er verpflichtet sich, Frieden zu halten. Und – dies nicht zuletzt: Rollo erklärt sich bereit, die christliche Taufe anzunehmen! Er schwört also seinen Göttern und Gewohnheiten ab. Diese Fakten scheinen festzustehen, wenn auch die ganze Geschichte dieses Vertrages in einer eher legendenhaften Form auf uns gekommen ist. Ein Wolf wird fromm? Was sind seine Gründe?
Nun ganz klar sehen wir das nicht. Rollo hat offenbar im Frühling des Jahres 911 einen größer angelegten Raubzug durch westfränkisches Gebiet unternommen und er kommandierte keineswegs eine zufällig zusammengestoppelte Räuberbande, sondern eine Truppe, die man wohl als ein Heer bezeichnen darf. Auch früher schon hatten sich ja Wikingertrupps zu stattlichen Armeen vereinigt, beispielsweise, wenn es darum ging, selbst größere Städte zu belagern. Hier und da ist es sogar zu Ansiedlungen auf dem Kontinent gekommen.
Nun ist Rollos Streitmacht bis in die Gegend von Chartres vorgedrungen, und plötzlich wendet sich das Blatt. Der Vorstoß ist, wie eine Überlieferung sagt, wider Erwarten ungünstig verlaufen. Eine Niederlage für die Sieggewohnten? Muss Rollo gegen seinen Willen zurückstecken? Oder ist ihm selbst bewusst geworden, dass er umdenken müsse? Jedenfalls: Es kommt zu Verhandlungen. Und die Position, die Rollos Gegner einnehmen, muss wohl wiederum als überraschend bezeichnet werden.
Um die Situation zu verstehen, muss man kurz einen Blick auf die politischen Verhältnisse im damaligen westfränkischen Reich werfen. Die Zeiten des fest gefügten und klar strukturierten Imperiums Kaiser Karls, den wir als den Großen ehren, sind längst vergangen. Nach dem Tod dieses Herrschers im Jahr 814 ist das Reich geteilt worden und im zunehmend wirren Kräftespiel der späten Karolingerzeit entbrennen immer wieder Machtkämpfe um die Nachfolge. So geschieht es im späten 9. Jh., dass Karl III. (geb. 879, gest. 929) auf den westfränkischen Thron gelangt. Bereits 893 wird er zum König erhoben, aber erst 898 allgemein anerkannt. Er verkörpert das Ende der berühmten Herrscherlinie, die sich vom großen Karl herleitet. Sein Beiname („Simplex“) wird meist als „der Einfältige“ übersetzt, das Wort kann aber auch „schlicht“ oder „gradlinig“ bedeuten. Man möchte vermuten: Ein Beispiel dafür, wie wenig in der Politik – und ebenso in der Geschichtsschreibung – unauffällige Qualitäten von der eigenen Zeit und von der Nachwelt honoriert werden. Nur allzu oft gehört die Neigung der Völker und auch der Historiker den „großen Taten“, den „großen Tätern“ und den „großen Reichen“.
Eine Position herrscherlicher Stärke hat König Karl wirklich nicht behaupten können, wenn auch unter seiner Regierung die Zusammenführung seines Gebietes mit dem alten lotharingischen Teilreich gelungen ist. Und darüber hinaus kommt zumindest jene eine politische Entscheidung zustande, die allem Anschein nach eine wichtige stabilisierende Wirkung mit sich gebracht und die in jedem Fall weitreichende Folgen gehabt hat: Damit sind wir bei der oben erwähnten Einigung des Jahres 911 mit dem Wikingerführer Rollo. Und was diesem angeboten wird, ist nicht wenig, sodass er, offenbar rasch entschlossen, zugegriffen hat. Es mag ja tatsächlich sein, dass sich zu jener Zeit für jeden, der sehen kann, abzuzeichnen beginnt, dass die Epoche zu Ende geht, in der die Wikinger mit ungebundener Stärke tun und lassen konnten, was ihnen beliebte. Ob sich denn also der „War Lord“ Rollo dessen bewusst geworden ist?
In dem Abkommen, das unter König Karl mit ihm getroffen wird, erhält der Wikinger nichts Geringeres als die Herrschaft über das Gebiet um Rouen am Unterlauf der Seine; es wird auch als „Grafschaft Rouen“ bezeichnet. Mit dem Lehens-Vertrag ist ein Verhältnis gegenseitiger Verpflichtung begründet: Der Empfangende bekommt ein Territorium zu Beherrschung und Nutzung übertragen, dafür schuldet er dem Geber Gefolgschaftstreue und meist noch eine Reihe weiterer, näher festzulegender Leistungen. In diesem Fall dürfte die Absicht des Königs vor allem gewesen sein, endgültig jene Unruhe zu beenden, die mit den räuberischen Zügen der Wikinger verbunden war, denn Rollo hat nun die Aufgabe – und auch seinerseits ein fundiertes Interesse – weitere beutelustige Eindringlinge fernzuhalten. Diese Rechnung ist offenbar aufgegangen. So begeben sich die Nachkommen der wilden Raubgesellen förmlich in den Staatsverband des westfränkischen Königreichs, sind fortan eingebunden, werden sesshaft und zeigen, wie es scheint, auch sonst eine grundlegend veränderte Haltung. Die wilde Zeit des wikingischen Übermutes ist offiziell vorüber. Allerdings: Ein paar Züge des früheren Wesens gehen keineswegs verloren, wie wir noch zur Genüge sehen werden.
Rollo begründet eine Dynastie (die „Rolloniden“), aus der auch Wilhelm „der Eroberer“ hervorgehen wird. Die Männer, die sich mit ihrem früheren „Räuberhauptmann“ an der Küste des Ärmelkanals niederlassen, sind, wie man durch Namensforschung ergründet hat, zum großen Teil aus Dänemark gekommen, einige aber wohl auch aus Norwegen, unter diesen ist anscheinend Rollo selbst. Die vorherige Oberschicht des zugeteilten Gebietes wird offenbar durch die neuen Herren ersetzt. Die Frauen, mit denen die „Siedler“ Familien gründen, dürften sie zumeist aus der „bodenständigen“ Bevölkerung genommen haben, die man als gallisch-römisch-fränkisch bezeichnen kann. So kommen recht unterschiedliche Erbanlagen zusammen und diese haben einen neuen, wie wir sehen werden, äußerst „lebenstüchtigen“ Volkscharakter hervorgebracht.
Der Schritt zum Vasallenstatus dürfte Rollo umso leichter gefallen sein, als ihm seine neue Position – typisch für die Machtstrukturen, in die er sich hinein begeben hat – viele Freiheiten, ja in mancher Hinsicht einen fast unabhängigen Zustand belässt. So kann sich später auf dieser Basis das Herzogtum der Normandie entwickeln, während aus dem Königreich Karls III. jenes Staatsgebilde hervorgeht, das wir nun – ungefähr von jener Zeit an – mit dem Namen „Frankreich“ bezeichnen: