Am Abgrund. Klaus Vater

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Am Abgrund - Klaus Vater

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bei dem armen Tapezierer von der ‹Roten Insel›, reißen Sie mich mit rein. Haben Sie das verstanden?»

      Das hatte Kappe verstanden. Gennat steckte in einer Zwickmühle. Brachte er ihn im Sinne der Braunen zur Räson, verlor er das Vertrauen der altgedienten Kripobeamten. Brachte er Kappe nicht zu einer braun eingefärbten «Vernunft», galt er in der Augen der Machthabenden rasch als unzuverlässig. Eine schier ausweglose Situation für Gennat. Aber da der sich schon öfter aus solchen Situationen befreit hatte, machte sich Kappe keine große Sorge um ihn. Gennat war ein Phänomen.

      Der Tapezierer bekam einen kurzen Prozess und die Henkersmalzeit. Hermann Kappe machte sich während der folgenden Wochen möglichst klein.

      Dann folgte der Fall einer jungen Frau, die in einem Hotel in der Friedrichstraße erschossen worden war. Der Täter war flüchtig. Offenkundig hatte er sie verführt und dann ausrauben wollen. Die Stadt, eine Vier-Millionen-Einwohner-Bestie, verschlang jedes Jahr auf diese oder ähnliche Weise so manche junge Frau. Doch Kappe hatte mit Glück und Können den Fall rasch gelöst. Daher wich langsam die Scham wegen der Degradierung, und sein Selbstbehauptungswille rührte sich wieder. Während der vergangenen Wochen hatte er öfter über die Zeitläufte nachgedacht. Immer häufiger hatte er mit Verbrechen zu tun, deren Auslöser nicht allein Gier oder Mordlust waren. Hass auf eine andere Herkunft und Neid auf Wohlhabende kamen hinzu. Tritte mit genagelten Schuhen, Knüppel, Mauser. Wieder ein Volksfeind weniger.

      Schließlich hatte ein Oberwachtmeister im Osten der Stadt einen betrunkenen Mann erschossen, der zuvor einen anderen Gast niedergeschlagen hatte. Dieser Fall war der leichteste, denn der Betrunkene hatte gedroht, mit seiner Eisenstange die Herrschaften am Tresen zu Brei zu schlagen. Der zufällig anwesende Polizist, ins Gespräch mit Bekannten vertieft und die Nase im Bier, war aufmerksam geworden, als der Betrunkene eine kurze Eisenstange aus der Tasche zog und sie einem Mann auf den Kopf schlug, um sich dem Nächsten zuzuwenden. Der Oberwachtmeister war aufgestanden und hatte den Betrunkenen angeschrien, er solle einhalten. Als der sich darauf mit der Eisenstange in den Fäusten dem Polizisten zuwandte, zog dieser die Pistole und gab drei Schüsse auf den Mann ab, um sich dann wieder an seinen Tisch zu setzen. Der Niedergeschossene war binnen weniger Minuten verblutet.

      Kappe hatte die Ergebnisse der Gerichtsmedizin studiert, die Zeugen einbestellt und vernommen, die Aussagen verglichen. Nichts Neues. Der Mann hatte gewarnt, geschossen und andere wie sich selber vor Schaden bewahrt. Stutzig machte ihn die Tatwaffe: keine neue Walther PPK, sondern eine Sauer Modell 24, eigentlich ausgemustert, aber bei manchen noch im Gebrauch.

      «Wo tragen Sie die alte Sauer?», hatte Kappe den Oberwachtmeister gefragt.

      Der hatte die Brauen hochgezogen und geantwortet: «Im Gürtel, wie alle im Sturm.»

      Kappe hatte seine Antworten notiert, den Aktendeckel geschlossen und den ganzen Vorgang weitergeleitet. Der Fall schien eindeutig. Und dennoch blieb bei Kappe ein saures Gefühl zurück – das Gefühl, dass etwas an der Geschichte des Oberwachtmeisters nicht stimmen konnte.

      Jetzt lag der Fall eines Zimmermanns auf Kappes splittrigem Schreibtisch. Leiblein, Kaspar Michael. Merkwürdiger Name. Er legte eine Mordakte an. Sichtete, was zu diesem Fall vorlag: ein Umschlag mit Unterlagen über Leibleins Beruf und Werdegang, sichergestellt in dessen Zimmer in der Michaelkirchstraße. Ein Protokoll zweier Polizeibeamter. Einige lose beschriebene Seiten Papier. Sonst nichts. Kein Beschluss über eine Einweisung Leibleins in ein Gefängnis, nichts von der Gerichtsmedizin.

      Kappe begann zu lesen. Leiblein hat wissentlich und mit Absicht den Tod mehrerer Zimmerleute herbeigeführt. Sie sind wegen seiner Machenschaften in fließendem Sand erstickt. Das Papier war unterschrieben von einem Gießwein, Polier stand ergänzend darunter. Und vom Bauleiter. Dessen Unterschrift, offenbar eilig gesetzt, war unleserlich.

      Leiblein habe dafür gesorgt, dass eine Wand der Baugrube am Stettiner Bahnhof einstürzte und Arbeiter unter sich begrub, hieß es weiter. Kappe wusste, dass am Stettiner Bahnhof die neue Nord-Süd-Bahn durch die Stadt gebaut wurde. Die ersten Pläne zu dieser Strecke stammten noch aus der Kaiserzeit. Nun hatte sich der Führer des Vorhabens angenommen.

      Kappe blickte zu Galgenberg hinüber, mit dem er sich seit kurzem ein Zimmer teilte. «Leiblein, ein ungewöhnlicher Name, oder?» Der grunzte, stand auf und ging zu einem Schrank, dem er zwei Bücher entnahm. «Schauen wir mal in unserem Wörterbuch der Familiennamen in zwei Bänden.» Er blätterte, las, rieb sich die Nase.

      «Da haben wir den Namen. Leiblein. Aha – Landfahrer. Hier steht: Im fahrenden Volk des Rheinlandes und Württembergs anzutreffender Familienname. Die Sippen der Leiblein zählen zu den Zigeunern. Der Name ist ebenfalls in der Schweiz und in Österreich nachge- wiesen.» Er brummte. «So, also Roma soll der Leiblein sein.»

      «Roma?»

      «Ja, Roma», erwiderte Galgenberg. «So nennen die sich selber.» Kappe schüttelte den Kopf und las weiter in den losen Blättern. Mit blauem Kopierstift war in einer anderen Handschrift hinzugefügt: Die Arbeitsschlacht in Berlin muss gewonnen werden! Wir vermuten, dass Leiblein Deutschland gegenüber feindlich eingestellt ist. Oder dass er im Auftrag von Leuten gehandelt hat, die einen störungsfreien Bau der S-Bahn durch Berlin in Richtung Süden und Anhalter Bahnhof verhindern wollen. Der Mann ist schlau und aalglatt.

      So ein Blödsinn, dachte er. Ein Zimmermann – in wessen Auftrag sollte der ein Verbrechen begehen?

      Kappe überlegte kurz. Dann griff er zum Hörer, um einen der Kriminalassistenten der Mordinspektion anzurufen. «Wo ist dieser Leiblein … Noch in Moabit? Schaff ihn her. Aber flott!» Er legte auf und widmete sich wieder dem Schreiben.

      Auf einem anderen Blatt war zu lesen, Leiblein habe am Abend zuvor mit einigen Arbeitern Streit gehabt. Sie hätten sich gegenseitig voller Wut angeschrien. Der Bauleiter habe dem Streit mit einigen scharfen Worten ein Ende bereitet. Wodurch diese Streiterei ausgelöst worden war, wisse man nicht.

      Aufmerksam schaute Kappe sich das Papier an. Ein Blatt wie aus einem Heft gerissen, ein wenig fleckig, liniert, einseitig beschrieben. Mehrere Handschriften standen untereinander, ohne Datum und Ortsangabe. Ebenfalls mit blauem Kopierstift hatte jemand hinzugefügt: Schutzhaft ist anzuordnen. Unterschrieben von einem Maretzke, Obertruppführer. Er stutzte. Ein SA-Feldwebel. Das fehlte noch! Die Braunen mischten bei dieser Ermittlung mit. Das passte Kappe überhaupt nicht.

      Er legte die Blätter beiseite und griff zum offiziellen Protokoll. Unterschrieben von Hauptwachtmeister Schneider und Wachtmeister Neufeld.

      Am 20. Juni gegen fünf Uhr am Nachmittag ereignete sich auf der S-Bahn-Baustelle am Stettiner Bahnhof eine schwere Verschüttung, der mehrere Arbeiter zum Opfer fielen. Trotz sofortigen Herbeieilens der Polizei aus dem Abschnitt 31, der Feuerlöschpolizei und mehrerer Sanitäter aus der Charité konnten zwei, möglicherweise noch mehr Arbeiter nicht gerettet werden. Die exakte Zahl der Opfer konnte nicht festgestellt werden. Ein weiterer Arbeiter starb an den Folgen seiner Verletzung noch am Unfallort. Die Namen der bisher bekannten Opfer lauten: Paul Schnicke, Ewald Karnovski, Herbert Kaschke.

      Der auf der Baustelle anwesende Zimmerer Kaspar Michael Leiblein wird von verschiedenen Zeugen beschuldigt, den Tod dieser Bauarbeiter in die Wege geleitet zu haben. Heimtückisch habe er seine Kollegen in die Baugrube gelockt, nachdem er diese unsachgemäß abgesichert hatte. Der Unglücksablauf: Die Arbeiter kamen in einer Tiefe von rund zehn Metern um. Aufgrund einer Erschütterung ist die Wand der Grube beschädigt worden. Fließsand schoss mit so viel Druck ein, dass der Boden der Grube einsank. Mehrere Männer verschwanden. Der Bauleiter beschrieb die Situation als vergleichbar mit einem Waschbeckenabfluss, der in einen Siphon mündet. So, wie das abfließende Wasser alles mit in den Siphon zieht, reiße Fließsand alles mit in den Untergrund.

      Anschließend

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