Am Abgrund. Klaus Vater
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Säuberlich war vermerkt, wer an den Rettungsarbeiten beteiligt gewesen war und wo man gesucht hatte. Während der Rettungsarbeiten habe Leiblein sich teilnahmslos gezeigt und nicht mitgeholfen.
Das Protokoll führte die Namen des Poliers und des Bauleiters sowie mehrerer Arbeiter auf, die den Hergang erläutert hatten.
Welch ein Durcheinander! Hier jede Kleinigkeit aufgeführt, dort Wichtiges nicht gefragt. Das Werk von Anfängern? Kaum. Auch unter diesem Papier stand in blauem Kopierstift: Maretzke, Obertruppführer. Und: Muss in Schutzhaft!
Auch das Protokoll wanderte auf die Seite. Kappe schüttelte die Papiere aus dem braunen Umschlag. Galgenberg hatte seinen Stuhl herangezogen, um zuzuschauen. Leibleins Ausweispapiere: Am 6. Juni 1887 in einem Ort in der Eifel mit dem seltsamen Namen Bleibuir geboren. Verheiratet mit Anna Leiblein, geborene Busch. Drei Kinder. Von Beruf Zimmerer. Der Vater hieß Caspar Leiblein, geboren in Stotzheim bei Euskirchen. Als Beruf war Scherenschleifer angegeben. Die Mutter stammte aus Bleibuir. Geburtsname Laufenberg.
Mitglied Nummer 105 496 im Zentralverband der Zimmerer und verwandter Berufsgenossen Deutschlands, später Mitglied im Nachfolgeverband Baugewerksbund. Beide Gewerkschaftsbücher waren mit Wachskordel zusammengebunden. Eine Reiselegitimation war vom Vorstand der Zimmerer für die Jahre 1912 und 1913 erteilt worden. Die Stationen waren Hamburg, Bremen, Leipzig, Goslar und Straßburg. In Bremen war der Mann Spezialist für Bauen im Sand geworden. Abonniert die Arbeiterpresse , stand im Mitgliedsheft. Stärkt die Kampforganisation der Arbeiter.
Kappe brummte. Das Kerlchen aus der Eifel war ganz schön viel herumgekommen. Er griff nach einigen Schriftstücken, über denen jeweils das Wort Zeugnis stand. Ein Zeugnis der Bremischen Baubehörde und eines der Firma Gewerkschaft Mechernicher Werke. Welch ein komischer Name, dachte Kappe. Und ein Zeugnis aus Sachsen. Ausnahmslos wurden Leibleins Kenntnisse und Fähigkeiten als Zimmermann hervorgehoben. Sein Meisterbrief und ein Vermerk, wonach er selbständig Bauzeichnungen anlegen und lesen könne, ergänzten die Zeugnisse.
Außerdem befand sich in der Mappe Leibleins Militärpass: Vier Jahre Krieg im Westen, Feldwebel in einem elsässischen Regiment, Träger des EK I und der Georgsmedaille. Ein knappes Jahr vor Verdun, im Herbst 1918 vom Soldatenrat entlassen. Im Militärpass lag ein Heiligenbildchen. Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm, beide gekrönt und in gesteiften Kleidern. Kappe las die Widmung über dem Bild: Consolatrix afflictorum ora pro nobis. Er war sich nicht schlüssig, was das zu bedeuten hatte. Ob ihn diese Inschrift weiterbringen konnte?
Er wählte den Apparat von Professor Brüning in der Gerichtschemie an. «Verzeihen Sie, Herr Professor. Sie sprechen doch die alten Sprachen, oder nicht?»
Brüning lachte. «Aramäisch, Latein und Griechisch. Was wollen Sie denn übersetzt haben?»
Kappe las ihm die Worte langsam vor.
Es gluckste in der Leitung. «Kappe, werden Sie auf Ihre alten Tage gläubig? Das ist ein Spruch der Katholiken. Er bedeutet: Trösterin der Betrübten, bete für uns!»
«Kein versteckter Hinweis? Keine Geheimsprache?», wollte Kappe wissen.
«Nee, Herr Kollege. Katholikengewäsch, sonst nichts.» Kappe bedankte sich.
Auf einer Photographie war ein Grabstein zu sehen. Der Name Caspar Leiblein war in den Stein gemeißelt. Unter den Namen hatte der Steinmetz eine Art Planwagen in den Block gestemmt.
Kappe schüttelte wieder den Kopf. Daheim war Leiblein Feuerwehrmann. Kappe zog andere Photographien aus dem Stapel Papiere hervor, eine dunkelhaarige Frau mit feinem Gesicht blickte ihn aus resoluten Augen an – offenbar Anna Leiblein. Ein weiteres Bild von ihr und drei Kindern. Eine Photographie von zwei bärtigen Männern in Uniform. Mehrere Briefe Anna Leibleins an ihren Liebsten, aus denen ein feiner Duft aufstieg. Etwa wie die Erinnerung an Sommer, an das Kitzeln des Gräserdufts in der Nase. Hitze, träges Wandern durch Kornfelder. Der erste Tag mit Klara …
Polizeilich gemeldet war Leiblein in der Michaelkirchstraße bei Familie Gehrcke. Über Gehrcke, der als Reichsbanner-Mitglied bekannt sei, gebe es eine Akte, war handschriftlich auf einem Zettel hinzugefügt worden. Leibleins Arbeitserlaubnis für Berlin war vorhanden, die Firma Polensky und Zöllner hatte ihn eingestellt. Er erhielt 55 Pfennige die Stunde, eine Arbeiterwochenkarte zu acht Mark.
Kappe war unschlüssig, was er von dieser Geschichte halten sollte. Er griff zum Hörer, um die Nummer von Karl Bresser anzuwählen, den er von einem früheren Fall kannte. Den Baurat der Höheren Technischen Staatslehranstalt für Hoch- und Tiefbau hatte es vor einigen Jahren aus Köln nach Berlin verschlagen.
«Guten Tag, Herr Baurat. Lange nichts mehr voneinander gehört. Was macht die Gesundheit, alles bestens? Das freut mich. Herr Bresser, ich bin bei laufenden Ermittlungen über den Namen Leiblein gestolpert. Der dazugehörige Arbeiter stammt aus dem Rheinland, aus einem Ort namens Bleibuir …»
«Ein kleiner Ort zwischen Euskirchen und Schleiden», unterbrach ihn Bresser. «Das Dorf kenne ich. Und der Mann heißt Leiblein? Woher stammen die Eltern? … Ach, aus Stotzheim. Na, so was! Eine Rarität.»
«Wieso eine Rarität?», wollte Kappe wissen. «Im Namenslexikon steht, die Leibleins würden den Zigeunern zugerechnet, pardon, den Roma.»
«Werfen Sie das Lexikon weg! Leiblein ist wie Kreitz ein durchaus geläufiger Familienname der Jenischen.»
«Jenische? Nie gehört.»
«Das kann ich mir denken. Es gibt in Deutschland zwischen einhundert- und zweihunderttausend Jenische. In Österreich und in der Schweiz gibt es die auch. Und in Belgien. Es ist eine kleine Volksgruppe. Woher sie kommen, weiß niemand so richtig. Es gab sie schon vor Hunderten von Jahren. Sie sind fahrendes Volk, ernähren sich vom Besenbinden, Bürstenherstellen, Kesselflicken, Korbflechten, Scherenschleifen. Sie leben wie in einer Nische. Oder besser gesagt wie hinter einem Vorhang. Es gibt sie aber. Ihre überkommene Lebensweise gerät freilich immer mehr ins Hintertreffen. Kessel sind so billig geworden, dass sich ein Flicken nicht mehr lohnt. Wer braucht noch Körbe? Daher wandern viele Jenische jetzt ab in die Betriebe.»
«Woher wissen Sie das?»
«Tja, während meiner Zeit im Rheinland bin ich ziemlich viel herumgereist. In der Gegend um Euskirchen fielen mir die vielen Landfahrer auf. Mit denen habe ich mich unterhalten. Ein Jenisch namens Kreitz, ein Gipser, hat meine Wohnung in Köln gestrichen und den Stuck an der Decke erneuert. Der hat mir eine ganze Menge erzählt. Unter anderem, dass sie sich dagegen wehren, mit Zigeunern verwechselt zu werden.»
«Wie reden die miteinander?», wollte Kappe wissen. «Auf Deutsch?»
«Nein. Die Sprache ist eine Art Geheimdialekt. Ein bisschen mittelalterliche Gaunersprache, Jiddisch, manches stammt aus den Roma-Dialekten, hinzu kommen deutsche Begriffe und eigene Wortschöpfungen. Ich ziehe zum Beispiel jetzt an meiner Schmogal , an meiner Zigarette.»
«Also doch mehr oder weniger Zigeuner … ich meine, Roma», hakte Kappe nach.
«Eben nicht. Weder Sinti noch Roma. Leiblein ist Vertreter einer kleinen, fast völlig unbekannten Volksgruppe. Ich glaube, deren Lebensmotto lässt sich auf den Satz einkochen: Arm macht schlau! Überlebenskampf im fahrenden Gewerbe macht wissbegierig und entwickelt alle Fähigkeiten. Arm macht nicht dumm.»
«Das würde erklären, warum unser Leiblein so ein tüchtiger Zimmermann ist.»
«Genau,