Am Abgrund. Klaus Vater

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Am Abgrund - Klaus Vater

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zu lassen, in deren Ermittlungen sich die SA eingemischt hatte.

      «Diese Informationen können Sie haben», antwortete Trude Steiner. «Sie brauchen lediglich vorbeizuschauen. Es liegt alles bereits parat.»

      Kappe zögerte. Wieso lagen solche Informationen schon bereit?

      «Nur zu. Das hat Herr Gennat bereits vor Wochen veranlasst.

      Der ist ja nicht von gestern. Und Sie stehen auf der sehr kurzen Liste der Leute, die Einblick haben dürfen. Sie fertigen keine Abschriften an, geben nichts aus der Hand. Sie bestätigen mir durch Ihre Unterschrift bei der Rückgabe, dass Sie keine Regel verletzt haben. Kann ich mich darauf verlassen?»

      «Selbstverständlich», antwortete Kappe.

      Wenige Minuten später hatte er einen Aktendeckel in der Hand, der zugeklebt war. Auf dem Verschlussstreifen standen Name und Datum. Kriminalrat Arthur Nebe hatte diese Unterlagen zuletzt in der Hand gehabt. Im Präsidium wurde erzählt, Hermann Göring halte die Hand über den gelernten Berliner Polizisten. Nebe sei für die Geheime Staatspolizei, für die preußische Gestapo tätig. Welche Aufgaben er im Einzelnen hatte, das wusste offenbar keiner.

      Kappe löste den Streifen und öffnete die Mappe, um einige der Fälle zu entnehmen.

      Fall eins: Mord an einem kommunistischen Bezirksverordneten. Das Bild des Ermordeten zeigte ein mageres Gesicht, volles Haar, eindringliche Augen. Er trug ein knautschiges Hemd und eine Jacke in einem undefinierbaren Grau. Motorenschlosser in einem Flugzeugwerk der AEG. Ein Allerweltsgesicht. Auch die Mörder waren auf Photopapier gebannt worden. Alle trugen die obligatorische Kappe, Hemd und den kurzen Schlips. Der Sturmriemen lief quer über die Brust.

      Der Bezirksverordnete war aus dem Haus getreten, in dem er mit seiner Familie wohnte. Vor dem Haus hatte sich ein SA-Mann aufgepflanzt, eine Holzlatte mit einem daran genagelten Schild in der Hand. Darauf stand: Hier wohnt ein Volksfeind. Ein kurzer Wortwechsel – und dann mehrere Schüsse, die den Bezirksverordneten töteten. Zufällig waren Schutzpolizisten in der Nähe. Sie verhafteten die beiden SA-Männer. Die kamen in Zellen des Präsidiums, der sogenannten roten Burg. Zwei Tage später wurden sie auf schriftliche Anweisung des preußischen Innenministers Göring wieder aus der Haft entlassen.

      Fall zwei: Mord an einem Betriebsrat. Wieder waren Opfer und Mörder photographiert worden. Die Mörder hatten gestanden. Dennoch waren sie auf Veranlassung des preußischen Innenministeriums aus der Haft entlassen worden.

      So reihte sich ein Fall an den anderen. Wie elektrisiert las Kappe schließlich folgende Schilderung:

      Mehrere SA-Mitglieder des Spandauer Sturms hatten sich derart zerstritten, dass sie schließlich ihren Konflikt handgreiflich lösten. Dabei kamen zwei SA-Männer um. Da die Spandauer SA-Mitglieder ihre Gelage stets in Gesellschaft von Gästen abhielten, kam ein Obertruppführer auf den Gedanken, die Tötung der beiden SA-Kollegen einem völlig betrunkenen Gast anzuhängen. Dieser wurde mit Kaltwassergüssen aus seinem Rausch gerissen und mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe zwei SA-Leute erschlagen. Als der Beschuldigte sich zu wehren begann, wurde er erschossen. In einem Schriftstück wurde festgehalten, dass er sich gegen seine Festsetzung gewehrt habe. Als er die Flucht ergreifen wollte, sei er von aufmerksamen Hilfspolizisten erschossen worden.

      Das Schriftstück war vom Kollegen Teichmüller unterzeichnet. Der arbeitete für die Politische Polizei und war Kappe von einem früheren Fall bekannt.

      Er rief Teichmüller an.

      Der war nur mäßig überrascht, dass der Kollege ihn auf den Spandauer Fall ansprach. Die Schlüsselrolle habe offenkundig ein gewisser Gießwein gespielt, erklärte er Kappe. Der sei in der SA und führe beruflich als Polier eine Kolonne, welche für den S-Bahn-Bau tätig sei. Da er in Spandau wohne, treffe er sich zum Saufen öfter mit Leuten des dortigen Sturms. «Die Idee, den Tod der beiden einem Unbeteiligten anzuhängen, stammt von Gießwein, darauf würde ich wetten. Alles andere verschwimmt in einem Dunst aus Gerüchten, Schnaps und natürlich aus Beziehungen. Weshalb interessiert Sie der Fall?»

      Kappe erzählte, was am Stettiner Bahnhof vorgefallen war.

      «Da kann Ihr Mann aus der Eifel aber von Glück sagen, dass er noch lebt. Viel Glück bei Ihrer Untersuchung! Aber an die wahren Täter werden Sie nicht herankommen.»

      Am interessantesten waren für Kappe die Personendaten zu den gesammelten Fällen: Beruf, Alter, Werdegang. Sogar handgeschriebene Lebensläufe lagen bei. Da war der Polizist, bereits 1927 der SA beigetreten. Der Postbote. Der Angestellte einer Bank. Der Hausmeister. Der ehemalige Offizier. Der Werkzeugmacher. Kappe war erstaunt, wie viele SA-Mitglieder zuvor in einem Freikorps tätig gewesen waren. Freikorps waren Soldatenbünde gewesen, die sich in der frühen Weimarer Republik die Ermordung roter Revolutionäre und die Unterminierung der Demokratie zum Ziel genommen hatten. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gehörten ebenso zu ihren Opfern wie Matthias Erzberger und Walther Rathenau. Ein Attentat auf Philipp Scheidemann, der die Republik ausgerufen hatte, war gescheitert. Ab 1930 hatten sich diese Menschen oft der SA angeschlossen. Darunter hatten sich manche gemischt, die in der Zeit der Wirtschaftskrise kriminell geworden waren.

      Kappe verschloss den Aktendeckel und eilte nach Hause. Sein Bruder Oskar hatte seinen Besuch angekündigt.

      Oskar Kappe ließ sich ächzend in der Küche nieder. Das tägliche Stehen im Geschäft war Gift für seine Bandscheiben. «Im nächsten Leben komm ich als Kassenrendant auf die Welt. Da kann ich den lieben langen Tag sitzen.»

      «Wie läuft denn das Geschäft?», wollte Klara wissen. Sie kannte seine Klagen schon.

      «Es kann nicht besser laufen. Die Kackbraunen rauchen, weil Tabak braun ist. Die anderen rauchen, weil das braune Kraut dabei zu Asche wird. So braucht jeder meine Tabakwaren.»

      Klara schloss rasch das Fenster zum Hof, damit niemand die Sprüche ihres Schwagers hörte.

      «Doktor Kappe rät: Raucht, bis Berlin im Dunst versinkt! Das hält die Nation zusammen.»

      Das Gespräch plätscherte dahin. Klara genoss seine Flachsereien, schenkte ihm einen Märkischen Landmann ein und setzte sich schließlich ihm gegenüber an den Küchentisch.

      «Ich muss mit Hermann reden», sagte Oskar Kappe.

      «Der müsste ausnahmsweise mal pünktlich nach Hause kommen, denn er freut sich auf deinen Besuch», entgegnete sie. «Er hat den Fall eines Zimmermanns auf dem Tisch, der einige Arbeitskollegen in den Tod geschickt hat.»

      Oskar Kappe nickte. «Weiß ich. Als die Braunen heute ihre Stumpen bei mir gekauft haben, haben sie über einen Zimmerer gesprochen, der deutsche Arbeiter ermordet haben soll. Die wussten sogar, dass Hermann für den Fall zuständig ist. Einen Roten haben die ihn genannt. Hermann muss aufpassen. Die werden immer dreister. Als ich sie bat, etwas weniger laut zu sein, weil andere Kunden sich gestört fühlen könnten, sagte einer zu mir: ‹Männeken, Männeken, nicht dass dir dein vorlautes Maul mal leidtut. Denn wer mal auf dem Pflaster saß, der weiß, wie weh das tut, sagt man in Altona.› Dabei hat er gegrinst.»

      In diesem Moment betrat Kappe die Wohnung. «Klara, wo ist mein Besuch?»

      «Dein Besuch ist auch mein Besuch», rief sie laut. «Dein Bruder ist hier.»

      «Schön, dass du Zeit hattest, mal vorbeizukommen, Oskar. Was treibt dich denn hierher?», fragte Kappe.

      Oskar schaute ihn nachdenklich an. Dann erzählte er ihm die Begebenheit mit der SA.

      Kappe

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