Das Duell des Herrn Silberstein. Horst Bosetzky
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Da war zuerst Samuel Holdheim, der Rabbiner des »Tempels der Jüdischen Reformgemeinde« in der Johannisstraße, auf dessen Einladung ihr Sohn großen Wert gelegt hatte.
Aus der jüdischen Gemeinde kam auch Gerson, der Sohn des Banquiers Samuel Bleichröder. Er war 1822 in Berlin geboren worden und mit siebzehn Jahren in das väterliche Bankhaus in der Behrenstraße 62/63 eingetreten. Man sagte ihm exzellente Kontakte zu Otto von Bismarck und Kronprinz Wilhelm nach.
Eine Einladung war auch an den berühmten Komponisten Giacomo Meyerbeer, eigentlich Jakob Liebmann Meyer Beer, gegangen, doch der weilte gerade wieder in Paris.
Seine Stelle nahm nun ein anderer Künstler ein, der zwar in einem ganz anderen Genre zu Ruhm gekommen, aber ebenfalls als Berliner Berühmtheit anzusehen war: der Schau- und Puppenspieler Julius Linde.
Eine gewisse Prominenz konnte aber auch Wilhelm Raabe zugesprochen werden, der in der Spreestraße hinterm Schloss zu Hause war und mit seinem Roman Die Chronik der Sperlingsgasse gerade einiges Aufsehen erregt hatte.
Nahm man die Nähe zum König als Maßstab für die Bedeutung eines Mannes, so war der Leutnant Friedrich v. Treppeln als Flügeladjutant Friedrich Wilhelms IV. allen anderen voraus. Er kam aus der Neumark und war dem Hause verbunden, seitdem Friedrich Silberstein ihm ein wunderschönes Herrenhaus errichtet hatte. Am meisten fiel er durch seine Körpergröße auf, denn mit der hätte er jeden der Langen Kerls des ersten Friedrich Wilhelm glatt in den Schatten gestellt.
Von ganz anderer Herkunft und Statur waren die nächsten Gäste, die Sarah Silberstein begrüßen durfte: Monsieur Chaumont und seine Charlotte. Die Chaumonts waren unter Friedrich I. zwar nicht von der Insel Korsika nach Berlin gekommen, sondern aus der Gegend von LaRochelle, und doch hatte Maurice Chaumont, was die Physiognomie betraf, eine erhebliche Ähnlichkeit mit Napoleon Bonaparte. Ihm war es recht, denn schließlich war auch er ein Herrscher, wenn auch nicht über das halbe Europa, sondern nur über ein Handelshaus, dessen Angebot von Rotwein, mediterranen Leckerbissen aller Art und indischen Gewürzen über Tuche und Tapeten bis hin zu antiken Kunstwerken und Marmor aus Carrara reichte. Durch letztere Spezialität hatte er dann auch die Bekanntschaft von Friedrich Silberstein machen dürfen. Aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen erwog er immer wieder einmal, seinen Namen einzudeutschen, aber »Schauberg«, wie ihm vorgeschlagen worden war, gefiel ihm nicht, und so hatte er es dabei belassen, aus dem Maurice ein Moritz zu machen.
Die Frau an seiner Seite hielten viele, da er sie sichtlich anhimmelte, für eine neue Eroberung, wenn nicht gar – typisch Franzose! – für seine Maitresse, doch sie war seine Tochter Charlotte, eine beauté, wie sie im Buche stand. Sie trug ein Kleid aus taubenblauer Seide, das ihr langes schwarzes Haar besonders wirkungsvoll zur Geltung brachte. Sie war schlank und hielt sich stets kerzengerade, was sie ein wenig hochmütig erscheinen ließ. Zu diesem Eindruck trug auch bei, dass sie, wo sie auch war, gelangweilt wirkte – unter dem Leben, das sie führen musste. Sie hatte sich den schönen Künsten verschrieben und wäre am liebsten Malerin oder Schauspielerin geworden, war aber am Widerstand ihres Vater wie dem Zeitgeist gescheitert.
Nach ihr war Isaak Hirsch in die Diele getreten, Friedrich Silbersteins bester Freund und fast auf den Tag genauso alt wie er, Inhaber einer Nähmanufaktur in Moabit am Rande der Stadt und einer, von dem sich sagen ließ, dass er für seine Firma lebte. Die beiden verstanden sich auch deswegen so gut, weil sie eines gemeinsam hatten: Bei aller nach außen hin gezeigten Festigkeit waren doch beide von einer geheimen Angst zerfressen – der nämlich, keine Aufträge mehr zu bekommen und zu Bettlern zu werden. Und seit der Zeit der Schutzjuden glaubten sie zu wissen, dass sie sich um so sicherer fühlen konnten, je reicher sie waren: »Hast du Geld, kannst du ihnen immer noch entkommen, wenn sie Jagd auf dich machen, entweder durch ein besseres Pferd oder dadurch, dass du sie bestichst.«
In Begleitung von Hirsch war Katharina Rosentreter gekommen. Sie sah sich weiterhin als heimliche Verlobte von Aaron, obwohl die Dinge formal nicht vorangekommen waren, seit sie ihren Vater zum letzten Mal gesehen hatte. Sarah Silberstein hatte ihr zugesagt, ihren Sohn davon zu überzeugen, dass die Ehe mit Katharina das Beste für ihn sei. »Jetzt, da wir sie als Vollwaise sehen müssen, gebieten es Mitgefühl und Anstand.«
Als nächster Gast wurde Sigismund Stern begrüßt, der zusammen mit Aaron Bernstein die »Genossenschaft für Reform im Judenthume« gegründet hatte, die spätere Jüdische Reform Gemeinde. Man orientierte sich im Gottesdienst stark an der protestantischen Liturgie und Praxis. Die meisten Gebete, die Lieder und die Predigt waren deutschsprachig, und aus der Liturgie waren alle Passagen entfernt worden, die eine Rückkehr nach Palästina zum Inhalt hatten. Da die Gebete nicht mehr gesungen wurden, brauchte man keinen Kantor. Kopfbedeckung und Gebetsriemen waren abgeschafft, und Männer und Frauen saßen und beteten gemeinsam. Begonnen hatte man in einem provisorischen Betsaal in der Georgenstraße, 1854 war man in den sogenannten Tempel in der Johannisstraße 16 gezogen.
Als Letzter erschien Jason Silberstein, der Schwager der Gastgeberin. Er war so ziemlich das genaue Gegenteil seines Bruders. Konnte man Friedrich Silberstein Eigenschaften wie pragmatisch, zuverlässig und zielstrebig zuschreiben, so war Jason verträumt und chaotisch, konnte ganze Tage vertrödeln und wusste auch mit seinen fast fünfzig Jahren nicht so recht, was er einmal werden wollte. Hielt man ihm vor, Müßiggang sei aller Laster Anfang, dann lachte er nur und sagte, die ja gerade reizten ihn. Er trank, er trieb sich in Spielsalons herum, er ließ sich von reichen Witwen aushalten. Alle liebten ihn, bei allen galt er als äußerst unterhaltsam. Er konnte recht geistreich sein und war dabei ein Spötter sondergleichen, einer, der vor nichts zurückschreckte. Eine umfassende Bildung konnte ihm niemand absprechen. Einen Brotberuf hatte er nicht, er lebte von dem, was das Erbe seines Vaters abwarf. Das hatte er gut angelegt, und die Zinsen gab er Meir Rosentreter. »Da jungen die Silbergroschen dann wie die Karnickel.«
Nicht angetreten war der jüdische Musiker Louis Lewandowski, Leiter des Chores in der Synagoge Heidereutergasse und Komponist moderner Synagogalmusik. Er hatte kein Billett geschickt, um sein Fernbleiben bei Sarah Silberstein zu entschuldigen, sodass sich einige schon Sorgen um ihn machten. Seit Meir Rosentreter verschwunden war, musste man mit allem rechnen.
Sogleich wurde dessen Tochter nach dem neuesten Stand der Dinge befragt.
»Ich weiß leider nichts Neues«, antwortete Katharina Rosentreter. »Von Kommissarius Schlötel habe ich schon lange nichts mehr gehört. Der Tischlermeister aus Cöpenick, den er verdächtigt hatte, meinen Vater …« Sie brachte das Wort nicht über die Lippen, das sie eigentlich hatte sagen wollen. »… also, den hat er wieder laufen lassen müssen, weil sich dessen Frau und mehrere Nachbarn dafür verbürgten, ihn zur Tatzeit bei sich im Haus gesehen zu haben.«
»Ohne Leiche kein Mord«, sagte Leutnant v. Treppeln, der das Direkte liebte.
Rabbiner Holdheim war da einfühlsamer. »Ich gehe ja noch immer davon aus, dass Ihr Vater aus Gründen, die uns bisher verschlossen geblieben sind, das Land verlassen hat und irgendwo, vermutlich in den Staaten jenseits des Atlantiks, als ein anderer lebt und Ihnen, ist die Zeit dazu gekommen, Nachricht geben wird.«
»Das wäre meines Herzens Freude und Wonne«, kam prompt der Einwurf von Jason Silberstein. »Das ist ja seine Lieblingswendung. Beziehungsweise: Mit Jubellippen lobsingt mein Mund.«
Katharina