Vom Salz in der Suppe. Manfred Steinert
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Bis dahin waren alle Überlegungen noch logisch. Aber wie sollte das mit nur einem 8-Klassenabschluss gehen? Mit einem sehr mäßigen noch dazu. Zwar sollte es diese oder jene Ausnahme schon gegeben haben. Aber gerade ich, beziehungsweise mein Vater, ohne jegliche Beziehungen oder »heiße Drähte«? Vater, der ja gar kein Parteibuch, erst recht nicht das »richtige« hatte, der in seinem Tagebau sicher ein außergewöhnlich tüchtiger Arbeiter war, aber eben sonst nichts weiter. Somit musste für mich, bei allem Wohlwollen des damaligen Staates für Studienwünsche von Arbeiterkindern, alles wohl Illusion bleiben.
Andererseits, zumindest das Fragen kostete ja nichts. Und ein richtiger Antrag auf Delegierung, der müsste ja auch erst einmal offiziell abgelehnt werden. In diesem Falle immerhin nicht nur von einem »Arbeiterkind«, sondern zudem noch von einem »Armeefreiwilligen«, der sich noch dazu bei der Armee einen schweren Gesundheitsschaden zugezogen hatte. Vielleicht gab es also für mich doch noch irgendeinen guten Stern? Und … es schien tatsächlich so. Denn bereits nach kurzer Zeit landete die Delegierung zur Ingenieurschule in Berlin schwarz auf weiß bei mir im Postkasten. Kaum zu fassen! Einzige Bedingung dabei: Natürlich müsse ich vorher noch die Aufnahmeprüfung in Berlin bestehen.
Sollte das der Haken an der Sache sein? War das nur Höflichkeit und denen war klar, dass ein 8-Klässer die Prüfung ja sowieso nicht schaffen würde?
Wieder waren nun Dämme gebrochen. Völlig andere! Noch im Krankenhaus, später zu Hause während der Rekonvaleszenz-Zeit wurde gebüffelt, was das Zeug hielt. Der ältere Bruder schickte Mathe-Aufgaben zum Üben und alles machte komischerweise sogar noch Spaß. Besonders weil erste Erfolge beim Verstehen vormals existierender »Böhmischer Dörfer« weiter anspornten. Nun war der Knoten gerissen. Endlich! Da war plötzlich eine Triebkraft aktiviert, ähnlich stark wie vorher beim Radfahren, jedoch nun völlig anders geartet. Dass ich das Studium schaffen könnte, schaffen würde, daran hatte ich mittlerweile kaum noch Zweifel. Und wenn ich nächtelang büffeln müsste. Mein großer Bruder, der mit seinem Fleiß auch einen solchen Weg erfolgreich gegangen war, wurde zum Vorbild.
Aber die Aufnahmeprüfung in Berlin? An der konnte ja alles noch scheitern.
Das war sie, meine persönliche Sternstunde! Irgendwann im Frühjahr 1963. Nicht die spätere gut bestandene Ingenieurprüfung oder noch später das Diplom, nein diese Aufnahmeprüfung war es.
Ich war mir der Bedeutung dieser Prüfung so bewusst, dass ich vor meiner Abfahrt nach Berlin zu meinen Eltern sagte: »Wenn ich bestehe, komme ich mit dem Flugzeug zurück.« Die »Interflug« war damals gerade gegründet und erste IL14 zogen am Himmel, Fliegen war noch lange nicht zur Normalität geworden. Doch ich kratzte nach der Prüfung mein Geld (56 M oder schon MDN?) zusammen, vermied den Kauf einer Zugfahrkarte und … flog zurück nach Leipzig. (Damals noch L.-Mockau)
Und die Prüfung selbst? Ein mündliches Aufnahmegespräch. Allein vor einer mehrköpfigen Kommmission. Alles nach schlafloser Nacht in einem kleinen Berliner Hotel und völlig übermüdet. In der ersten Nachthälfte schlaflos vor Aufregung, gegen Morgen dann aus Angst, nun doch noch einzuschlafen und damit zu verschlafen. Blass, übernächtigt und unsicher dann mein Auftritt vor der Kommission. Doch da wurden keine Fallen gestellt, in die man tappen konnte, ich glaubte sogar ein gewisses Wohlwollen bei der Kommission zu spüren. Die wussten wohl, da will einer mit nur 8.Klasse studieren. Da wurde ganz fair nur logisches Denken getestet, Motivationen hinterfragt, nichts von dem, was man Abiturienten fragen würde und wovor ich solchen Respekt, besonders vor Mathematik, gehabt hatte. Angst und Unruhe auch dadurch, dass meine Nacht schlaflos geblieben war. Ängste, die sich nun jedoch als unbegründet erwiesen … ein richtiger Glücksfall. Endlich auch mal wieder für mich. Trotzdem, wenn die Kommission gewollt hätte, ohne dafür hätte gleich »gemein« sein zu müssen, wenn sie vielleicht nur entsprechenden »Direktiven« von oben zu befolgen gehabt hätte? Und ich somit statt mit dem Flugzeug mit dem Zug hätte heimfahren müssen – dann wäre wahrscheinlich alles eine ganz andere Geschichte oder gar keine geworden.
Und warum nun trotzdem alles gleich ›Sternstunde‹ nennen, wo doch letztlich alles noch so glücklich verlaufen war?
Im selben Jahr, in dem ich jene Aufnahmeprüfung absolvierte, ergaben sich noch zwei zusätzliche Fakten, welche für mich theoretisch ein wahrlich dramatisches Potenzial enthielten:
Zum einen wurde nun auch in der DDR die Wehrpflicht eingeführt. Damit entfiel natürlich der »Freiwilligen-Bonus«, über den ich ja gerade noch so meine Delegierung zum Studium erhalten hatte.
Und obendrein wurde im gleichen Jahr vom DDR-Bildungsministerium verfügt, dass derartige Ausnahmen, mit nur 8-Klassenabschluss ein Ingenieurstudium beginnen zu dürfen, fortan der Vergangenheit angehören würden.
Oh je! Da hatte ich ja gerade noch mal das letzte Trittbrett des abfahrenden Zuges erwischt!
Da scheint der Begriff »Sternstunde« für besagte Aufnahmeprüfung durchaus angemessen.
Denn falls diese genannten Regelungen nur ein halbes Jahr früher gegriffen hätten …? Da wäre ja zwangsläufig in meinem weiteren Leben manches völlig anders verlaufen.
Und die folgende Geschichte hätte es gewiss so nicht gegeben.
Im Faltboot zu den Sternen
(Oder: Wenn der Weg das Ziel ist)
Ferne Länder und Kontinente, fremdartige Kulturen und Menschen, exotische Tiere und Pflanzen, ungewohntes Klima und ähnliches. Das sind gewöhnlich die Klischees, die einem beim Wort »Expedition« einfallen. Und gewiss gehören auch immer ungewohnte Strapazen dazu.
Aber »Expeditionen« in Deutschland?
Dass das auch ohne die zuvor genannten »Ferne-Klischees« passieren kann, das zeigt diese Geschichte. Die erwähnten »ungewohnten Strapazen«, die bleiben allerdings erhalten.
Eine Geschichte aus den sechziger Jahren der früheren DDR. Eine Geschichte, die heute gewiss auch ähnlich denkbar wäre, doch würde das unter den aktuellen Bedingungen dann eher mit Abenteuerurlaub bezeichnet, würde über jede Menge technisches, logistisches und informatorisches Hinterland verfügen und somit Unwägbarkeiten überschaubar halten.
Dagegen waren das, was sich damals auf heimischen (DDR)-Gewässern abgespielt hatte, wahrlich richtige Expeditionen ins Ungewisse.
Da geht es um die Durchquerung der gesamten ehemaligen DDR im Faltboot. Von der tschechischen Grenze (Elbe) über Havel, … Müritz … bis zur Ostsee, die gesamte Boddenküste entlang vom Darß über Rügen bis Usedom. In einer anschließenden Tour auch bis Rostock/Warnemünde. Alles gepaddelt, teilweise gar gesegelt, in drei Jahren, während dreier langer Studentenurlaube.
Da geht es um Landschaften, um Nacht- und Gewaltfahrten, um Zufälle und »Beinahe-Katastrophen«, um Ängste und Befürchtungen, jedoch auch um einmalige Erlebnisse. Um riesige Seen und kleine und kleinste Kanäle, Bäche und Fließe, um Strapazen und Risiken, um Dutzende von Wehren, die umtragen werden mussten, um Wind, Sturm und Wellen, gar um Hochseeschiffe. Da geht es um Partnerschaften und Befindlichkeiten, und ganz gewiss – nach langer, gerade noch so überstandener Krankheit – auch um Selbstbestätigung. Darum, sich am eigenen Schopf aus einem mentalen »Sumpf« zu ziehen. Da spielt das anfängliche Alleinsein des damals absoluten Wasserwander-Neulings auf dem Wasser ebenso eine Rolle wie das stets »wilde« Zelten, mitunter unbeabsichtigt gar auf Truppenübungsplätzen oder ziemlich regelmäßig auf Kuhkoppeln.