Streben nach der Erkenntnis. Klaus Eulenberger
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„Schnell, schnell, der Schlüssel muss sofort zurück!“
Wenn ich jetzt als Erwachsener, der aus diesem kleinen Jungen Klaus hervorging, bzw. sich weiterentwickelte, mir die Frage stelle, weshalb wir dies alles mit diesem fürchterlich hohen Heimlichkeitsgrad und -kodex abwickelten, fällt mir eine Antwort eindeutig schwer. Eines würde ich auf alle Fälle behaupten – wir Kinder dieser Generation waren alle ziemlich straff erzogen und teilweise für heutige Verhältnisse ziemlich devot. Ich hatte schon früher erwähnt, dass ich ziemlich schüchtern in die Welt blickte. Lothar war ähnlich, wenn er auch manchmal einen Wutanfall bekam. Ich muss nachdenken – diese Zeilen und dieses Buch schreibe ich mehr als drei Generationen später, wenn ich für eine Generation zwanzig Jahre ansetze. Jede Generation schimpft auf die Generation vor sich. Ich will hier auch nicht schimpfen, ich möchte ja nur mein Erstaunen zum Ausdruck bringen. Zurzeit biete ich Lesungen für mein Buch „Kleine Kelly – was nun?“ an und habe schon relativ viel ausgeführt. Da ich dies neuerdings fast durchweg nur in Gymnasien tue, habe ich oft Telefongespräche mit Lehrern und, wenn diese nicht gegenwärtig sind, sind meist deren Kinder mein Telefonpartner. Da bin ich jedes Mal erstaunt, mit welcher Aufgewecktheit, Intelligenz und auch Schnelligkeit so ein kleiner Knirps oder ein kleines Mädchen von manchmal nur fünf Jahren diese Angelegenheit abwickelt. „Hat denn meine Mutti Ihre Telefonnummer, wenn nicht, dann geben Sie sie mir. Natürlich habe ich schon einen Stift in der Hand und auch Papier vor mir liegen – es kann losgehen. Wenn meine Mutti wieder da ist, ruft sie dann gleich zurück!“ Wir hatten ja damals auf unserem Bauerngut überhaupt noch kein Telefon – von Computer, iPhone, Handy und anderem elektronischen Kram ganz zu schweigen. Selbst Fernsehen war damals noch in weiter Ferne. Jetzt habe ich mich aber ziemlich verplaudert und verschwatzt. Eigentlich wollte ich mit dieser Darstellung nur deutlich machen, dass wir längst nicht so fix und flott wie die heutige Jugend unterwegs waren und außerdem viel zurückhaltender, viel mehr Respekt und sogar Angst vor Erwachsenen hatten – also deshalb diese Heimlichkeit. Es durfte niemand wissen, konnte für uns nur Ärger bedeuten, wenn es herauskam.
Tante Frida war uns schon wohlgesonnen, schon deshalb, weil wir etwas Abwechslung in ihr tristes Leben brachten. Allerdings bekam sie schon irgendwie mit, dass wir tricksten, um an die knochenharten Brötchen zu kommen. Wenn man in ihr Zimmer trat, waren gleich rechts am Türgewand oben viele Schlüssel zu sehen, die auf einem starken Haken hingen. Wir wussten nie so genau, wofür welcher Schlüssel existierte, hatten aber mit viel Aufwand herausbekommen, welcher für den relevanten Schrank mit dem Doktorbuch zutreffend war. Dazu mussten wir mindestens fünf Schlüssel ausprobieren, bis es schnackelte. Der Ablauf, den wir uns zuvor in mehreren Sitzungen flüsternd erarbeitet hatten, war folgendermaßen. Einer von uns, zum Beispiel in diesem Fall ich, musste Tante Frida in ihre Küche locken. Dies erfolgte mit der Bitte um Kathreiner, ein Glas Wasser oder auch wegen eines Butterbrötchens. Ging dann Tante Frida in ihr Kabuff, war dies das Signal, in diesem Fall für Lutt, einen Schlüssel zu nehmen, hinauszurennen und ihn auszuprobieren. Als wir dann den Schlüssel ermittelt hatten, wurde es einfacher, aber gleichzeitig auch aufwändiger, denn der Schlüssel musste genommen, rausgerannt, Schrank aufgeschlossen, Buch herausgenommen, unter den Schrank gelegt, Tür wieder zugeschlossen, zurückgegangen und Schlüssel wieder hingehängt, werden. Später passierte uns, dass Tante Frida bereits aus ihrer Küche zurück, aber der Schlüssel von Lothar noch nicht wieder hingehängt war. Das war aufregend, sehr sogar. Frieda schaute misstrauisch auf den Schlüsselhaken. „Wo ist denn der große Schlüssel und der Lothar?“ Statt einer Antwort sagte ich erschrocken: „Hast du noch etwas Zucker, Tante Frida?“ Sie schaute mich an, war etwas unschlüssig und gab mir dann den Rat: „Geh doch mal in die Küche, zweites Regal unten links.“ Dann überlegte sie: „Habe es allerdings gar nicht gern, wenn ihr in die Küche geht. Ich hol es lieber selbst.“ Dann drehte sie listig die Daumen weiter, ruhig, wie immer, gaaaanz laaaannngggsaaammm voooorwärts und wieder rüüüückwärts. „Worauf wartest du denn, Tante Frida?“
„Auf Lothar, natürlich!“ So was Ausgefuchstes, dachte ich, jetzt hat sie uns in der Falle. Dann kam Lothar wieder herein und sofort wurde von Tante Frida verlangt, zu wissen, wo er war bzw. herkäme. Lothar wurde bleich, seine Augen traten hervor: „Ich, ich, ich – war auf dem Klo.“ Er erhielt nur eine Antwort. „Interessant!“ Nun war Lothar natürlich in der Zwickmühle bzw. wir, denn er konnte ja nicht vor Fridas Augen den Schlüssel wieder hinhängen. Ich zeigte ihm hinter Fridas Rücken an, er solle sich hinsetzen. Das tat er. Tante Frida drehte listig die Daumen weiter, ruhig, wie immer, gaaaanz laaaannnggggsaaaammmm voooorwärts und wieder rüüüückwärts. Keiner sprach ein Wort. Offensichtlich war es ein Geduldsspiel geworden. Nach langer Zeit, für uns eine Ewigkeit, stand Tante Frida auf, ging in die Küche und holte Zucker. Lothar sprintete hoch, raste zum Schlüsselhaken und hängte das vertrackte Ding hin. Er sprintete zurück. Tante Frida kam mit dem Zucker zurück, schaute auf den Schlüsselhaken und setzte sich hin. Wir schauten in ihr Gesicht und konnten kaum eine Reaktion wahrnehmen.
Spätestens jetzt stellt sich aber doch die Frage, weshalb wir denn so nass auf das Doktorbuch waren. Es war mit Sicherheit die altbekannte Neugier der Kinder. Hören Sie sich mal den Dialog an. „Wonach müssen wir denn überhaupt in dem dicken Wälzer suchen, Lothar?“
„Na, Mensch, mich interessiert vor allem, wie die Kinder entstehen.“
„Quatsch, Lutt, wie die Kinder entstehen, ist für mich Kacke. Mich würde aber brennend interessieren, wo die Kinder herkommen und wie das alles so passiert.“
„Eu ja, ich will alles wissen. Sonst tanzen uns die Erwachsenen immer auf der Nase herum und tun so überschlau. Das kann ich überhaupt nicht leiden.“
„Lass uns doch einfach mal anfangen, Lothar.“
„Ja, ja, ist schon gut.“ Wir blätterten unsystematisch und wild in der fetten Schwarte. „Pass auf, Lutt, dass wir nichts kaputtmachen, sonst kriegen die das alles heraus.“
„Guck mal hier – Nasenbluten. Ei Gott, das sieht ja furchtbar aus, das ist ja alles Blut, was da runter läuft. Der Katarrh der Nasenschleimhaut, alles uninteressant. Asthma, Bluthusten, Blutspucken, Blutsturz – einfach grässlich, das alles. Brustfell- oder Rippenfellentzündung, Herzbeutelentzündung, Herzbeutelwassersucht, Herzvergrößerung und Herzerweiterung, Herzinsuffizienz, die Bauchhöhle mit ihren Eingeweiden – sieht ja schrecklich aus, guck mal hier, das alles – der Darm, darüber Leber, Magen, Milz, absteigender Dickdarm. Nun habe ich es aber bald satt. Sieh mal hier das Bild – der Bauch, Eingeweide, Milz, daneben der Magen. Das ist der, Lutt, in den du immer maximal viel hineinstopfst.“
„So geht das nicht, Klaus – außerdem kommt jemand die Treppe herauf, also sofort unter den Schrank damit!“ Wir gaben an diesem Tage auf. Nun begann aber das fast größere Problem, denn wir mussten den Schlüssel wieder unbemerkt holen, Schrank aufschließen, Buch zurücklegen, Schlüssel wieder stillschweigend hinhängen. Einmal hatten wir Riesenglück, indem Tante Frida auf das Klo musste. Da hatten wir ausreichend Zeit und konnten in Ruhe unseren dunklen Geschäften nachgehen. Leider ging es beim Studium des Doktorbuches weiter so, d. h. uninteressante und eklige Sachen kamen uns bei unserer Suche in den Weg. Einer von uns, in dem Fall war es Lothar, blätterte und redete darüber, während der andere nur zuhörte und schaute. Lothar legte dar: „Die Gaumenspalte oder der Wolfsrachen, Hals- und Mandelentzündung, Magenkatarrh, Mastdarmfistel, Stuhlverstopfung – du, Klaus, wollen wir hier mal lesen, denn da haben wir ja auch manchmal ein Problem.“ Wir lasen, kamen aber bei der altdeutschen Schrift nur schwer zurande. Also ging es weiter. „Wurmkrankheiten, Bandwürmer, Spulwürmer, der Peitschenwurm, die Fettleber und die Speckleber, die Schnür- und die Wanderleber. Mensch, Klaus, ich hab schon wieder den Kanal voll. Kann denn eine Leber wandern?“
„Lutt, wir machen das nächste Mal weiter!“ Nächstes Mal der gleiche Zirkus. „Gallensteine,