Streben nach der Erkenntnis. Klaus Eulenberger
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„Guck dir doch mal seine Fresse an – der sieht ja aus wie ein Walfisch. Reden tut er auch nicht. Irgendwie ist der Kerl muksch, schlecht gelaunt und putzig“, flüsterten wir uns in jungenhafter Leichtigkeit und mit viel Spaß gegenseitig in die Ohren. „Hoffentlich kommen wir gut an. Sieh mal, eh der mal einen Gang reinkriegt – das knallt und donnert ja furchtbar. Ist ja auch eine alte Karre mit Holzkarosse. Ich finde, der fährt immer so weit auf, sieh mal hier, den Holzgaser-LKW vor uns. Hoffentlich sind wenigstens die Bremsen in Ordnung, sonst kommen wir nicht lebend im Krankenhaus an und damit hat sich das mit der Operation dann gleich erledigt.“
Wir kamen in ein riesengroßes Zimmer mit wahnsinnig vielen Fenstern und noch mehr alten Männern. Zwei Schwestern kamen mit irgendeinem fahrbaren Untersatz, auf den ich mich legen musste. Dann fuhren sie mit mir weg (ich konnte nur noch rasch sagen: „Erik, mach’s gut!“) und ich sah, auf dem Rücken liegend, nur Decken, Türdurchfahrten und Lampen. Plötzlich kam auf mich gleißendes Licht zu – ich erschrak fürchterlich – jemand legte ein Tuch auf mein Gesicht, irgendeine übelstinkende Flüssigkeit kam darauf und eine Männerstimme befahl: „Tief, sehr tief und lange atmen!“ Etwas Furchtbares begann – das ekelriechende Gas legte sich mir sofort auf die Lunge. Sie wurde schwer wie ein Stück Stein. Ich atmete aber befehlsgemäß weiter, konnte kaum noch tiefer atmen, da ich plötzlich ganz schnell, immer schneller kurz atmen musste. Es kamen große bunte Kugeln auf mich zugeschossen, diese wurden dann kleiner, sie schossen auf mein Gesicht, wurden dann schwarz. Ich bekam eine unheimliche Angst – es erdrückt mich – die bunten Kugeln, Kugeln, Kugeln, Kugeln! Ich wollte schreien, schreien, schreien … Ich fühlte mich so schlapp und mir war so schlecht, so schlecht. Gleichmäßig atmen, viel, viel. Ich kann aber gar nicht, es geht nicht, nur schwer atmen, atmen. Und es stinkt, das stinkt. Plötzlich hörte ich eine schrille Fistelstimme, die empört und knallig rief: „Das ist ja unverschämt, hier ins Bett zu kotzen. Schließlich hast du doch hier eine Nierenschale. Wofür soll denn die sonst da sein?“ Verschwommen sah ich in meinem desolaten Zustand aus halbgeöffneten Augen eine ältere Schwester, die die Empörung in Person war. Nach ihrem Wutanfall bei mir ging sie weg und rüber zu Eriks Bett, was höchstens zwei Meter entfernt war. Dort wiederholte sich das an meinem Bett Geschehene mit einem ähnlichen Koller. Erik wollte etwas sagen, aber es ging ihm wie mir. Wir konnten den Mund nicht bewegen – ich wollte den Arm heben – auch das ging nicht. Die Schwester verschwand und kam mit zwei Putzfrauen zurück, welche Tücher mitführten und Eimer hatten. Sie wischten und scharrten an unseren Bettlaken und Betten herum. Wir bekamen das kaum mit, da wir schon wieder eingeschlafen waren. Irgendwann wurden auch wir wieder munter und fühlten uns nach wie vor schlecht, konnten aber mit schwerer Zunge langsam sprechen. Die alten Männer klärten uns auf. „Was ihr da bekommen habt als Narkose, dass ist Äther – etwas Entsetzliches. Man denkt, man wird durch die Luft gehoben und dann irgendwo fallen gelassen. Aber macht euch keine Sorge, das wird schon wieder.“ Wir waren mehrere Tage in dem Zimmer und bekamen mit, dass die Alten durchweg und leider immer schlechte, abscheuliche Laune hatten. Sie waren alle wegen Magenproblemen hier, teilweise schon operiert, und ihnen ging es scheinbar nicht gut. Ich kann mich noch besinnen, dass unten auf der Straße, an einem Auto, welches, das muss ich schon sagen, eine extrem schrille Hupe hatte, diese ständig bedient wurde. Die Alten regten sich darüber fürchterlich auf, beschwerten sich bei den Schwestern und bekamen heraus, dass dies der Sohn vom Chefarzt sei. Daraufhin verstummten sie, da sie zu feige waren, weiteres zu unternehmen. Tage gingen vorbei und uns wurde mitgeteilt, dass uns morgen früh, 10 : 00 Uhr, am Haupteingang bzw. -ausgang ein Auto abholt. Wir freuten uns riesig. Allerdings gelang es uns nicht, so schöne Bündel, wie uns unsere Mütter geschnürt hatten, herzustellen. Irgendwoher, entweder war’s von meiner Mutti oder vom Krankenhaus, wie auch immer, hatte ich ein Kopfkisseninlett entdeckt und befehligte, leicht überheblich (ich war immerhin ein Jahr älter als Erik): „Du, deine und meine Sachen knallen wir alle hier in diesen Kopfkissenbezug. Der ist groß genug und wir haben ein Gepäckstück, was wir abwechselnd tragen können – die Last auf dem Rücken und mit beiden Händen können wir dann das lose Ende von dem Bezug halten.“
Erik leistete keinen Widerspruch und so standen wir, unsere Kopfkissenbeule neben die Tür gelegt, wartend am Ausgang. Es wurde zehn Uhr, viertel elf, halb elf, elf, halb zwölf. Zwischendurch berieten wir immer, was zu tun sei. Nun wurde es mir aber zu bunt und ich sagte mit der Souveränität des ein Jahr Älteren: „Erik, jetzt gehen wir los. Ich kenne genau den Weg. Wir gehen die kleine Straße vor, kommen auf die Hainichener Straße, die gehen wir rechts runter. Dort sehen wir den Schwanenteich, gehen links rum auf die Leipziger Straße, an der AKA (akademische Kampfbahn) vorbei, immer weiter bis nach Klewado. Mach dir keine Sorgen. Wir schaffen das!“ Also marschierten wir los. Zunächst hatte ich die Beule auf dem Rücken und hielt mit der rechten Hand den freien Zipfel. Tat mir die rechte Hand weh, nahm ich die linke. Das Problem war nur, dass die Last immer auf eine Seite wollte und abrutschte. Hatte ich die rechte Hand am Zipfel, rutschte alles nach rechts unten, bei der linken Hand alles nach links unten. „Das ist eine Scheiße, Erik, dass das Gewicht immer seitlich weg will. Man müsste zwei Zipfel von dem Inlett haben – dann bliebe es in der Mitte“, waren meine Überlegungen während unseres Laufs. „Da geht mir ein Kronleuchter auf, Klaus“, kam eine unheimlich wichtige Erkenntnis, „deshalb hat der Rucksack zwei Schlaufen – so bleibt das Gewicht in der Mitte.“ So hatten wir zwei Jungs, von knapp sieben und knapp acht Jahren, noch einmal den Rucksack erfunden. Während unseres Marsches schwatzten wir zwei angeregt drauflos. „Die werden aber staunen, wenn wir plötzlich auf unser Gut einbiegen. Sicher hat meine Mutti wieder Haferflockenmoler gebrutzelt.“
„Was sind denn das für Dinger – Moler?“, erkundigte sich Erik. „Das sind ganz einfach Bonbons. Noch besser schmecken aber die Fondant, die es jetzt auch wieder beim Simonbäcker gibt.“ Sicherlich bildeten wir für die Städter Freibergs eine außergewöhnliche und malerische Spazier- und Transportmannschaft. Wir schauten aber nicht hin, bekamen so auch nicht mit, dass viele neugierig und überrascht zu uns blickten, uns nachschauten, die Köpfe drehten und sicher auch verwundert schüttelten. Wir waren nach zirka einer halben Stunde aus der Stadt raus und marschierten über Land. Jetzt wurden wir aber doch mehrfach angesprochen. „Wo kommt ihr denn her? Seid ihr ausgerissen? Wo sind denn eure Eltern?“ Jedes Mal antwortete ich mit dem Stolz des Truppführers. „Wir sind beide am Nabel operiert wurden und marschieren jetzt nach Hause.“
„Weshalb seid ihr denn nicht abgeholt worden?“
„Wozu denn, wir sind doch schon alt genug.“ Dann kamen aber zwei Bewohner von Kleinwaltersdorf, die Frau Sander mit Fahrrad und der Weber, Alfred mit Motorrad, welches er abrupt abbremste, als er uns sah. Beide kommentierten: „Wir sagen bei euch zuhause Bescheid, dass ihr kommt. Soll ich euer Gepäck, also, ich meine, euer prall gefülltes Kopfkissen auf dem Motorrad mitnehmen? Da habt ihr nicht so schwer zu schleppen.“
„Nicht nötig, wir packen das alles ganz allein“, war meine selbstsichere Antwort. Dass ich nach weiteren zehn Minuten Lauf über die Last stöhnte, konnten die beiden ja nicht ahnen. Endlich konnten wir, von der Leipziger Straße links ab, in den Buttermilchweg einschwenken. Es ging durch den Wald, dann bereits an unseren Feldern vorbei und so kamen wir, praktisch