Maschinenkinder. Frank Hebben
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Luftschiffe flogen die Hilfsgüter ein, Dampflaster brachten sie auf den Markt; stundenlanges Warten im Schnee, für etwas Mehl, ein wenig Schmalz. Immerhin liefen die Reservepumpen der Stadtwerke mit Waschbenzin, an Wasser mangelte es nicht. Nach einer freudlosen Weihnacht brach das Jahr ohne Böller und zischende Raketen an.
Januar.
Februar.
März, als passende Generatoren aus Übersee eintrafen, auch Tesla-Spulen, fabrikneu, mit polierter Kuppel – allein: zu spät; die Männer waren sprachlos geworden, die Frauen hysterisch vom Hunger und vom Leid; wund gelegen, verkrüppelt ohne Stromgliedmaßen, griffen sie, halb verrückt, nach einem Strohhalm, jedem Ehrenwort zum Trotz:
Morsezeichenschnell blieb das Gerücht im Umlauf, dass nahe Danzig ein Küstenabschnitt verschont geblieben sei: Dort lag der Zoppot, der beliebte Jahrmarkt, wo der geniale Erfinder zur Weltausstellung, 1903, seine Spule errichten ließ, um die Wunder der Technik zu preisen, bevor ein Vergnügungspark draus wurde.
Ein Himmelszeichen! Alle Gebete schienen erhört.
Endlich wieder laufen zu können, sich alleine zu waschen, seine Notdurft zu verrichten, für dieses Glück schien keine Strapaze zu viel. Schnell wurde aus einer Schar frommer Christen, die auf Pferdekutschen zur Ostsee aufbrachen, eine große Pilgerfahrt; Tausende Kranke folgten, als die Tage länger wurden – von heiligen Worten beseelt: Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war.
Ganze Familien brachen auf. Andere ließen ihre Verwandten im Stich, wenn sie loszogen, eine Decke eingepackt und Proviant – im Glauben, am Ende erlöst zu werden mit Strom, jener göttlichen Kraft, die Wissenschaft und Technik entfesselt hatten. Viele schafften es nicht.
Auf Photographien, vom Militär als geheim deklariert, war ein Karren mit gebrochener Achse zu sehen, beide Räder knietief im Dreck; ein Mädchen im Nachthemd, halbnackt; ein Bankier, dessen Motorwagen qualmte; Kinder, verloren am Wegesrand … und dazu die vielen Toten, Augen wie Milch, die Finger verkrümmt, die Haut voller Blutergüsse und blau, so lagen sie auf der Erde. Keiner wollte sie begraben.
Wütend prüfte der Major das Album durch, fluchte bei diesem Bild, schüttelte beim nächsten den Kopf, bis er die letzte Seite aufschlug; und was er dort fand, empörte ihn so, dass er vom Schreibtisch aufsprang, um ein Telegramm abzusetzen, das noch zur selben Stunde den Kaiser erreichte. Man musste diesen Wahnsinn beenden!
Mit schaufelnden Rotoren stieg der Zeppelin auf, während das Anwesen sacht zurückfiel, die Bäume, die Architektur der barocken Bögen, danach war alles ein Schachbrett aus Feldern und Dörfern und Straßen …
Der Kaiser in der Gondel ganz vorn, eine Hand am Geländer, den gelähmten Arm an die Hüfte gedrückt, schaute hinaus, seine Miene beschattet vom Gaskörper über ihm, als die Küste am Horizont näher rückte. Morgenlicht flimmerte auf den Propellern, blendete ihn und die großen Generäle, die ihm nahe standen. Am Boden flog die Eisenbahnstrecke dahin – nach Osten, Nordosten, wie eine Kompassnadel, nächste Stationen erst Lauenburg, dann Neustadt, durch Telegraphenbäume vernetzt, deren Kabel nicht länger summten; und keine Schuljungen mehr, die auf Drahteseln den Gleisen nachfolgten, dabei die Töne zu entschlüsseln versuchten, lachten, scherzten, sich mit der Welt verbunden fühlten. Keine Züge, die ratternd nach Danzig fuhren, keine Saatmaschinen auf den Äckern im Landkreis; auch die Straße schien so weit verlassen, bis auf wenige Schemen, die lose oder in Gruppen in der Dämmerung saßen und warteten …
Ebbe; gerade erst hatte die Flut eingesetzt, noch spähten die Möwen nach Würmern und Aas, und die Luft war erfüllt von ihrem Gekreisch, das bis zu den Brachen drang.
Hoch oben, vom Zeppelin aus, konnte man draußen auf einem Felsen das Gezeitenkraftwerk sehen: ein Backsteinhaus, weiß getüncht, für die Generatoren darin, und unter dem Meeresspiegel massige Tidenrohre, durch die das Wasser strömen konnte, um die Turbinen zu wälzen. Am Dach waren Leitungen quer über den Strand zu einer Klippe gespannt, dort stand ein Mast, vom nächsten gefolgt, der an der Küste weiterführte: So hing der Zoppot seit jeher am Netz und bezog allen Strom aus Wasser und Wind.
Außer dem Riesenrad, dessen Gondeln wie Tautropfen glänzten, lag der Jahrmarkt im Dunkeln – die Schiffschaukeln, der Kristallpalast und die Schießbuden; das Kabinett der lebendigen Wachsfiguren. Keine Orgel klimperte, sobald ein Karussell sich drehte, weder Gelächter noch Rufe, wohlige Schreie im Kuriositätenzelt angesichts der Gläser der Monster. Fort der süße Bonbonduft, verschwunden die Hunde, Bären und Affen, die ihre Kunststücke zeigten; die Jongleure, Eisenbieger, Feuerspucker, alle Farben und die Musik – nur Stille, die rauschte, als wäre eine Schellackplatte aufgelegt.
Es wurde taghell und erste, flache Wellen fluteten die Rohre, da erstrahlte die Teslaspule wie aus reinem Gold, so monumental, dass ihre Kuppel die Sonne verdeckte, weshalb das Jahrmarktportal schattig blieb … und das Lager vor seinen Toren: Planwagen, Zelte. Innen, hinter dem Tuch, zuckte Kerzenschein, verlosch, als die Pilger aus den Unterkünften traten.
Am Trampelpfad zwischen Suppenküche und Latrine hatten die Quacksalber schon ihre Stände geöffnet, verkauften Radiumsalbe zum Wucherpreis und galvanische Tinkturen. Von einer Kiste warf ein Pastor seine Predigt in die Menge: Weil nicht das Wissen, sondern der Glaube befreite! – daneben spielten Katzen mit Matsch, der durch zahllose Krücken zerstampft war.
Kotfliegen überall.
Die Ruhr grassierte, viele hatten sich angesteckt: Gestern waren drei gestorben, ein Müller, ein Kleinkind, ein Professor der Philosophie, rasch unter Löschkalk verscharrt im Massengrab – drei rote Striche auf einem Klemmbrett; das Lazarett überfüllt. Die Ärzte sahen hilflos zu, wie sich die Toten anhäuften; es gab kaum Medizin außer einem Aufguss aus Schwarzbeeren und Wein, den man den Kranken einflößte.
Trauer, die Köpfe gesenkt. Wer doch aufschaute, erschrak beim Anblick der zerlumpten Gestalten, die über Brotkrumen zankten, einander das Wenige heimlich stahlen oder mit Gewalt abpressten. Ob Monarch, ob Kaufmann – der Luxus war fort; die Klassenschranken eingerissen, der Zylinder verloren, der letzte Manschettenknopf gegen Butter getauscht.
Hier, im Elend, wurden alle gleich.
Stumpfsinnig, allein mit sich selbst beschäftigt, hatte kaum einer das Luftschiff bemerkt, das über dem Lager wie ein Sturm aufzog, düster am gewölbten Rumpf, unten, wo der Reichsadler prangte. Auch nicht das Lichtsignal im Fenster der Kanzel, es blitzte golden, einmal kurz, dreimal lang und:
Das Schmettern von Trompeten!
Knie an Knie reitend, Steigbügel an Steigbügel, rückte Kavallerie vor und verfiel, um für den Schrecken zu sorgen, in einen kurzen Galopp: Nicht der Säbel, die Peitsche zählte, wenn man sein Volk zusammentreiben wollte wie Vieh. Eingekreist blieb nur der Weg zum Jahrmarkt frei, dessen gusseiserne Tore fest verschlossen waren …
Steine und Erde spritzten hoch, ein Wirbel aus Hufen, die Rösser schnauften, Schaum vor dem Maul, als die Soldaten vorrückten, das Tempo zum Trab zügelten, dann ihre Lücken schlossen und die Mauerattacke in engster Formation führten. Sie rissen Stände, Zelte ab, während sie durchs Lager preschten: Fässer kippten, rollten weg, und ein Bretterverschlag krachte ein, dass die Leute panisch flohen, im Rollstuhl und auf Krücken, lahm und wehrlos wie Spinnen mit ausgerupften Beinen, so krochen sie davon, aber ihr Freiraum schwand schnell.
Im Nadelöhr zwischen den Planwagen staute sich die