Maschinenkinder. Frank Hebben
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Erst jetzt goss Paul die Suppe in den Teller; davor hatte er reglos gewartet, den Kellenstiel lose in der Hand. »Wo sind wir gewesen?«, flüsterte er.
Zu seiner Überraschung gab Lisa ihm Antwort: »Meine Eltern hatten die Koffer gepackt und im Salon abgestellt. Das Grammophon spielte noch – schnell mussten wir das Haus verlassen, ich aber bin rauf ins Kinderzimmer, um meine Puppe zu holen, die auf dem Bett lag. Als ich runterkam, die Treppe hat gezittert und es war ein Geknalle wie von Schwefelböllern, stand unser Gepäck allein im Raum. Sofort bin ich raus auf den Hof, vielleicht stiegen sie ins Automobil ohne mich, doch niemand war da, weder Mama noch Papa und auch der Hund nicht. Dann bin ich weiter gerannt, auf die Straße … und fast über dich gestolpert. Du lagst mitten auf dem Bordstein. Erst lief ich an dir vorbei, ich hatte so Angst, aber ich hab kehrtgemacht nach ein paar Metern und dich aufgehoben und mit mir getragen; warum, weiß ich nicht mehr. Ach, warst du schwer! Bis zum Hoftor konnte ich dich noch weiterschleppen, dann wurden meine Knie weich und ich hab mich einfach auf den Boden gesetzt und geweint und nach meinen Eltern gerufen – wie lange, kann ich nicht sagen, nur dass es dunkel wurde um uns rum.«
Sie schaute Rhombus an, der ihr zunickte:
»Und dort fand ich euch schließlich, und seitdem sind wir beisammen.«
Mit einer Hand schob Paul den Teller von sich weg. Er dachte nach. »Ich wüsste so gern, wer meine Eltern waren«, sagte er leise. »Und wieso sind alle tot, außer uns?«
»Das ist verdammt schwer zu erklären«, antwortete Rhombus und stapelte den Teller auf seinen.
»Bitte«, flehte Paul. »Erzähl es mir endlich.«
Als Lisa den Tisch abräumte, holte Rhombus einen Stift und einen Block aus seiner Kammer und begann darauf zu zeichnen – viele kleine leere Kreise. »Die Bombe hat nicht nur das Land draußen zerstört«, erklärte er, »sie hat die Wirklichkeit auseinander gesprengt. Aus einer einzigen Welt, aus unserer Welt mit unserer Zeit, sind viele weitere geworden, jede für sich abgeschottet von den anderen.« Er tippte auf einen Kreis. »Weißt du, ich glaube nicht, dass die Menschen beim Angriff gestorben sind. Vielmehr ist es wohl so: Hier sind wir, wir drei, und vielleicht noch wenige Menschen mehr, außerhalb der Kuppel, in einer anderen Stadt.« Er tippte auf einen zweiten. »Und hier sind wieder welche drin, möglicherweise eure Eltern, meine Frau oder der Bürgermeister, eine Gruppe von Zinnsoldaten, wer weiß.« Die Spitze des Bleistifts sprang von Kreis zu Kreis. »Und hier sind welche, und hier drin auch und da und da … Verstehst du?«
»Weiß nicht so recht«, flüsterte Paul, der gebannt auf die Kreise starrte. Was malte der Alte da?
»Junge, ich sagte doch, dass es schwer ist. Also streng dich an!« Rhombus kritzelte Pfeile aufs Blatt. »Aber diese Welten, sie bewegen sich, mal aufeinander zu, mal voneinander weg. Je näher sie sich kommen, desto stärker wird die Phase, bis ihre Ränder sich kurz berühren, dann stoßen sie sich wieder ab wie Magneten … und die Beben werden schwächer. Aber da ist noch etwas …« Grob füllte er den weißen Zwischenraum mit schnellen Strichen aus; auch Lisa sah ihm dabei zu.
»Dort, wo jetzt schwarz ist, klafft eine ganz andere Welt wie ein tiefes dunkles Loch. Eine Zwischenwelt, eine … Geisterwelt, die mit unserer nichts gemein hat. Und fremde Wesen leben darin, du kennst sie: Feuerfalter, Würmer und diese Geistervögel. Fremde Pflanzen auch, wie die Pilze, die Lisa oben in der Holzkiste züchtet. Sie gehören nicht hierher. Das sind bloß Vermutungen, obwohl ich viel gerechnet habe in den letzten Jahren. Ich glaube, als die Bombe zündete, hat sie einen großen Riss gesprengt, durch den die Geisterwelt zu uns hereingequetscht wird, wenn die Phase näher rückt – verstehst du, wie Schuhcreme aus einer Tube. Hoffen wir also, dass nichts Schlimmeres durchbricht als diese verdammten blauen Sporen. Junge, was ist?«
Pauls Schultern zitterten.
Rhombus’ Worte hatten ihn so aufgewühlt, dass er nicht mehr auf dem Stuhl sitzen konnte. Er sprang auf. »Dann sind sie also gar nicht gestorben?«, stieß er hervor, während er langsam zurückwich, weg von ihnen, rückwärts zur Haustür. »Ihr habt mich angeschwindelt! Miese Lügner seid ihr.«
»Junge, du kapierst nicht ...«
»Oh doch, ich kapiere sehr wohl!«, brüllte er und hatte die Klinke schon in der Hand. »Meine Eltern leben, und ihr habt gesagt, sie sind tot. Ich hasse euch!«
»Ruhig, Paul. Lass es dir erklären.« Lisa legte das Spültuch beiseite und kam auf ihn zu, doch Paul wandte sich ab, schlug die Tür auf und stürzte hinaus, ohne sich umzudrehen, die Treppen runter. Unten, auf den letzten Stufen, breitete er seine Arme aus, rannte, so schnell er nur konnte – und sprang, wobei er das Geräusch eines Propellers nachmachte. Wegfliegen! Fort von hier. Alles hinter sich lassen.
Beim Landen verlor er einen Schuh; knickte mit dem Fuß weg, fiel auf die Knie, dann auf die Hände.
Tränen brannten in seinen Augen.
Ohne Laterne, dafür war ihm der Hund nachgefolgt, löste Paul das Boot vom Steg und paddelte in die Nacht hinaus. Nie wieder wollte er umkehren, nie mehr.
Beidseits des Kanals wuchsen Feuerbeeren, hier und dort, winzige Leuchtmarken, und so konnte er Kurs halten, obwohl das Wasser tiefschwarz war. Die feuchte Luft ließ ihn schwer atmen, weil die Häuser näherrückten: ein Grabgeruch zwischen den engen hohen Wänden – die Erdgeschosse überflutet, Möbel und Teppiche verfault, die Tapeten verschimmelt; loses Geschirr am Grund verstreut. Auf Augenhöhe sah Paul einen Kronleuchter hängen; und da war ein Porträt, von eisblauem Moos befleckt: ein Geistergesicht; und es gruselte ihn so sehr, dass er schneller paddelte.
In der Stille hörte er Wasser tröpfeln.
Je weiter er in die Schatten vordrang, desto dunkler wurde es ringsum; noch glühten ein paar Beeren, aber dann wurden die Ufer schwarz, als hätte ein Gas alles Licht erstickt.
Paul hustete.
Er machte Rückwärtsschläge, um das Boot zu bremsen. »Runter mit dir, du Faulpelz«, sagte er zu Ludwig, der auf der Munitionskiste döste; und der Hund trollte sich, kletterte unter das Dollbord, wo er sich schnaufend hinlegte. Eins der Wolfsaugen glänzte, verschwand.
Von oben drang noch ein Schimmern durch die Asche, ein kleiner, glühender Riss – plötzlich verblasst wie ein Glühdraht ohne Strom, und Paul sah die Hand vor Augen nicht mehr, als er die Kiste öffnete und ihren Inhalt durchwühlte: Verbandszeug. Eine Schere. Ein Lappen. Draht. Eine Leuchtpistole. Und die Phosphorstäbe, nach denen er gesucht hatte.
Es war stockfinster geworden.
Vorsichtig nahm er eins der Glasröhrchen heraus, knickte die Plombe ab und wartete, bis die chemische Reaktion begann: Lautlos ging der Phosphor in Flammen auf. Paul zählte bis drei, ehe er den Stab im hohen Bogen zum Ufer warf. Ein Klirren, ein Splittern. Worauf Feuerschein auf den Fassaden tanzte.
Am Ende der Häuserreihe gabelte sich der Kanal und floss zum Marktplatz, dahinter lagen die Katakomben, der Echosee – und rechts entlang zum alten Bahnhof, der höher gelegen und trocken war. Da Rhombus ihm aufgetragen hatte, nach Benzin zu suchen, ließ er das Boot auf den dunkleren Seitenarm zudriften. Ob der Alte seine Eltern herholen konnte, überlegte er, aus den Kreisen zwischen den Strichen? Wurde dafür das Lichtwerk gemacht? Funktionierte die Maschine überhaupt? Oder war das alles bloß ein Schwindel?
»Miese Lügner«,