Maschinenkinder. Frank Hebben
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Doch erst wollte Paul etwas nachprüfen …
Kräftiger zog er das Paddel durch, steuerte das Boot unter Rohren hindurch, die einst zum geschlossenen Wassersystem gehörten, aber längst verrostet und aufgebrochen waren: Aus den Löchern sickerte eine stinkende Brühe.
Der Kanal weiterte sich, bis er mit dem Vorplatz des Bahnhofs verschmolz; alles war meterhoch überflutet – die Hallen und Lokschuppen ringsum umschlossen ein Becken, in dem sich das Treppenportal spiegelte; noch höher die gläsernen Pforten. Das ganze Gebäude erweckte den Eindruck, als wäre es eine Gartenlaube von riesigen Ausmaßen. Innen ein rötliches Licht.
Nochmals warf Paul einen Leuchtstab zum Ufer, der aber nicht weit genug flog, sondern ins Wasser fiel und versank wie ein Stern, hell funkelnd … Kurz tauchte am Grund eine Trambahn auf, die auf ihrem Gleis schlief, unten, in der grünen Tiefe.
Und Schwärze.
Nach einem langen Schlag ließ Paul das Boot ausgleiten und kletterte von Bord. Sein Fuß schmerzte, als er auftrat, der Knöchel war geschwollen. Trotzdem packte er ein Tau, zuerst mit einer, dann mit beiden Händen, zog das Boot unter eine Gaslaterne und band es dort am Pfahl fest. »Ludwig, komm«, sagte er, bevor er die wenigen Stufen hinaufhumpelte.
Hinter sich hörte er Wellen schwappen.
Der Treppe schwankte leicht.
Paul stemmte die Glaspforte auf und ließ zuerst den Hund durch, bevor er selbst den Bahnhof betrat. Wo er auch hinsah, im Gewölbe und auf den Gleisen, wucherten fremdartige Pflanzen, Unkraut, Blumen und Sträucher, die feurige Blüten trugen. Ein herber Geruch sättigte die Luft, und Paul musste niesen, als er den Fahrkartenschalter passierte, danach ein Café, dessen Tische und Stühle noch draußen standen – leere Teller, leere Tassen wie bei einer Puppenstube.
Gespenstisch.
Paul spürte einen Kloß im Hals. Flach atmend blieb er stehen, um einen Baum zu betrachten, der mitten auf dem Bahnsteig wurzelte. Schwere, glutrote Früchte hingen an den Ästen. Seit seinem letzten Besuch hatten sich die Pflanzen stark vermehrt, anscheinend wirkte die Halle wie ein Gewächshaus, obwohl es hier drin weder drückend noch feucht war.
Während Paul vorwärts ging, ließ er den Blick bis zum Abstellgleis schweifen, wo noch ein Güterwaggon allein im Schatten stand: Seine Räder und Puffer wurden von eisblauen Ranken überwachsen – und auch die Fracht war unter Blättern und Zweigen versteckt, als hätte jemand ein Tarnnetz darüber gelegt: Kriegspanzer hatte der Waggon geladen, mit wuchtigen Feuerrohren, die zum Glasdach aufragten.
Schon früher war Paul auf ihnen herumgeklettert, hatte in die seitlichen Kanonen gespäht und versucht, die Einstiegsluken zu öffnen; heute wollte er nicht spielen, sondern das Metall anfassen. Deshalb humpelte er zu einer Trittleiter, stieg den Güterwaggon hinauf, streckte die Hand vor – und da fühlte er das feine, unsichtbare Feld, das über der Armierung schwebte. Wie ein Luftpolster, tatsächlich. Vielleicht stimmte dann auch der Rest: das mit den Zinnsoldaten und der Bombe; und dass seine Eltern noch lebten und —
Ludwig, der eben noch friedlich an einem Rad geschnüffelt hatte, bellte plötzlich laut, winselte und heulte, wobei er ruhelos umher lief.
»Was ist?«, fragte Paul. »Gefahr?«
Und wie zur Antwort wurde der Bahnhof von einem Beben hart getroffen; Gleise und Pflanzen, der Waggon und die Tanks – alles verschwamm vor den Augen.
Der Boden rumorte.
Wankend verließ Paul die Leiter, machte kehrt, als ein zweites, noch stärkeres Beben das Gewölbe vibrieren ließ: ein kristallklarer Ton, gleich einer Opernstimme, die sang, ehe Risse durchs Glas sprangen.
So schnell er nur konnte, hinkte er den Bahnsteig hinab, bog ab, links entlang, die Halle runter; stolperte, vom Beben fast umgeworfen, fiel aber nicht hin. Dann barst das Kuppeldach mit lautem Knall, und Splitter und Scherben prasselten auf die Gleise, messerscharf wie Schrapnellgeschosse – Wolken aus Glas, als sie am Boden zerspritzten und Paul und den Hund zum Café weiter trieben, wo sie Schutz hinter einem Korbsessel fanden.
Ins Getöse mischte sich ein neues Geräusch, ein Zischen, dann pfeifend und schrill, als würde eine Dampflok einfahren, doch war es kein Zug, der in den Bahnhof kroch, sondern ein monströses Ding, amorph und sternenschwarz, einer Schlange ähnlich, die ganze Häuser verschlang. Und was Paul darin sah, ließ ihn erstarren; er stöhnte. Reglos schaute er zu, wie der Schlund sich weit öffnete: ein Tunnel zu einer anderen Welt, an dessen Ende eine fremde Landschaft lag, ein Wald aus Pilzen, die blauen Lamellen so groß wie Zeppeline.
Und ein glühender Himmel.
»Ich träume«, flüsterte Paul, und seine Schultern zitterten.
Wie er nach draußen gelangt war, wusste Paul nicht mehr, nur dass er den Hund getragen hatte – über die Splitter und Scherben hinweg. Jetzt, mit dem Rücken zum Boot, starrte er auf den Bahnhof zurück; das Dach eingedrückt und die Säulen krumm, als wären dort Fliegerbomben gefallen.
Noch schien das Monstrum darin gefangen, aber dann, begleitet von einem mächtigen Krachen, bohrte es sich einen Weg quer durch die Fassade hindurch, inzwischen so groß wie ein Riesenrad, schwarz an den Rändern, wo Blitze zuckten, wenn es ein Hindernis fraß, eine Mauer, ein Fenster; und innen die fremde Welt. Dort wehte ein Sturmwind, der die Pilze schüttelte, und wie Dampf aus einem Rohr quollen blaue Schwaden herüber; Sporennebel.
Paul hielt den Atem an.
Hastig löste er das Tau vom Laternenpfahl, hechtete an Bord, pfiff, und Ludwig sprang rein, während er mit kurzen Schlägen das Boot wendete und rückwärts ruderte – das Ungetüm im Auge behaltend.
Der Nebel waberte hintendrein, zäher geworden; und auch das Monstrum schien träge, seitdem es den Bahnhof verschluckt hatte, als müsse es gegen einen Widerstand kämpfen. Außen krachte es wie Gewitter.
Trotzdem brauchte Paul alle Kraft, um den Vorsprung nicht einzubüßen. Seine Muskeln taten weh, und er verfluchte sich selbst: schon wieder die Maske vergessen!
Als sie das Becken überquerten und den Kanal erreichten, umfing sie die Immernacht: Im Dunkeln schien das Ungetüm noch lauter zu grollen, das, einen Steinwurf entfernt, hinter den Häusern verschwunden war.
Mist! So kamen sie nicht vorwärts: Paul musste das Boot wieder wenden, aber auch das kostete Zeit. Was sollte er –
Eine Bö zerzauste sein Haar. Erschreckt duckte er sich, hätte das Paddel fast losgelassen: Er packte fest zu, zwang den Kopf hoch – gleichzeitig fraß sich das Ungetüm zu ihm durch wie Feuer, das Papier verzehrte, und Blitze jagten über die Wände, im Zickzack die Häuserschlucht runter; hin und her, und verpufften.
Funken.
Die Luft roch elektrisch aufgeladen.
Fast hatte der Nebel das Boot erfasst, alles Rudern half nichts mehr; so sehr sich Paul auch anstrengte, der Abstand wurde kleiner und kleiner: fünfzig Meter, dann vierzig, dreißig – Ludwig, der am Bug stand und knurrte, mit Schaum vor dem Mund, schaute plötzlich nach oben, winselte, bellte, ehe der erste Geistervogel über sie hinweg schoss. Ein ganzer Schwarm war gekommen, und sein eiskaltes Raunen mischte sich ins Getöse.
In letzter Not warf Paul das Paddel hin,