Wenn ich wär, wie ich nicht bin. Kirsten Steineckert

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Wenn ich wär, wie ich nicht bin - Kirsten Steineckert

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die glorreiche Idee, Bauch-, Kopf- oder sonstige Schmerzen zu erfinden. Morgens gejammert half für den ganzen Tag.

      Natürlich durfte ich zu Hause bleiben und als erstes war Fiebermessen dran. Was wenig brachte, da ich erst mit 12 Jahren herausfand, dass neben einem geheizten Ofen Fieber zu messen sehr viel sicherer war. In den Jahren bis dahin musste ich mit Bauchschmerzen mein Glück versuchen. Zu meinem Leidwesen glaubte mir meine Mutter nicht immer. Manchmal hat sie Gnade vor Recht ergehen lassen und ich durfte zu Hause bleiben, das aber nur, wenn keine wichtigen Arbeiten anstanden.

      Aber meine kluge Mutter hatte eine wunderbare Idee. Sie schenkte mir einen Tag im Jahr, an dem ich ohne Ausreden zu Hause bleiben dürfte. Einfach so. Ab diesem Zeitpunkt überlegte ich jedes Mal, wenn mich die Lust am Schwänzen überkam, ob ich diesen Tag nehmen solle. Aber ... Was wäre, wenn dann noch so ein Tag käme, an dem die Lust aufs Schwänzen viel größer wäre? Und dann wäre der Tag weg! Nein, so hob ich ihn mir jedes Mal wieder auf. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je genutzt zu haben. Es hätte ja immer noch ein besserer Tag kommen können.

      Mein Mann bot mir vor 2 Jahren an, dass er mir einen großen ganz besonderen Wunsch erfüllen wolle. Mir fiel bisher keiner ein, der so besonders wäre, dass ich ihn einlösen wollte. Dann wäre er ja weg und vielleicht käme dann noch irgendein anderer, viel wichtigerer daher. So blieb er bisher unerfüllt.

      Manchmal denke ich, vor einigen Lieben hätte eine Fee kommen und mir Einhalt gebieten sollen. Mit der Aussicht, es käme noch eine nächste, viel bessere, größere Liebe. Ich hätte mir so manchen Irrtum und Kummer ersparen können. Andererseits, wenn ich mich wie als Kind verhalten und immer abgewartet hätte, würde ich heute noch auf die Liebe warten.

      Und das wäre verdammt schade, schade auch um manchen gelebten Irrtum.

      MEINE GROßELTERN

      Meine Großmutter war eine sehr resolute Frau. Mit ihrem grauen Haarkranz, kräftigen Hüften und imponierendem Busen wirkte sie in der kleinen Zweizimmerwohnung noch gewaltiger, als sie war. Sie sprach immer sehr laut, was an der Schwerhörigkeit meines Großvaters lag. Er war klein und schmächtig, wirkte fast demütig neben meiner Großmutter. Seine Stirn war immer in Falten gelegt, was seinem Gesicht einen erstaunten, fast erschrockenen Ausdruck verlieh.

      Beeindruckend waren seine mächtig abstehenden Ohren, die er einem entgegenstreckte, wenn er – wieder einmal – kein Wort verstanden hatte. Aber meist machte er sich gar nicht mehr die Mühe, dem Unverstandenen nachzuforschen, er nickte der Einfachheit halber oder brummelte freundlich etwas Zustimmendes vor sich hin. Das wiederum rief den Unmut meiner Großmutter hervor, die nach 50 gemeinsam verlebten Jahren ihren Mann besser kannte, als sich selbst.

      Kennengelernt hatten sie sich mit 16. Großvater war ihr Erster und – wie sie betonte – Letzter. Mit 18 heirateten sie. Großvater arbeitete sein Leben lang bei der Bahn als Beamter. Daran änderte auch der Krieg nichts. Man befand ihn als zu klein für einen deutschen Soldaten. Ich habe nie gehört, dass er das in irgendeiner Weise bedauert hätte. So lebten meine Großeltern ein Leben, in dem sich nur die Jahreszeiten änderten. Jeden Morgen, nachdem Großvater seine Mehlsuppe gegessen hatte, ging er zur Arbeit, begleitet von den wohlwollend ermahnenden, lautstarken Worten meiner Großmutter.

      Er solle nicht vergessen, die Brote aufzuessen, vorsichtig über die neue Kreuzung zu gehen und die Mütze nicht wieder liegen zu lassen. Wenn er weg war, räumte Großmutter die Wohnung auf, schwatzte zwischendurch ausgiebig mit der Nachbarin über die Nachbarn, ging einkaufen und kochte für den Abend vor.

      Punkt 15 Uhr trank sie eine Tasse Kaffee, legte danach die Schürze ab und zog sich eines der beiden festlichen Kleider an, die sie besaß, beide großgeblümt, aus leichtem Stoff in hellen Farben. Dazu eine Bernsteinkette, nur sonntags die mit den Perlen. Sorgfältig kämmte sie ihr Haar und wirkte ab 15.30 Uhr um Jahre jünger. Immer wieder sah sie kurz in den Spiegel, öffnete dann das Fenster, legte ein Kissen auf die Fensterbank und blickte erwartungsvoll die Straße entlang, als würde etwas ganz Ungewöhnliches geschehen.

      Punkt 16 Uhr bog Großvater um die Ecke und sah gespannt nach oben. In diesem Moment jubelte Großmutter ihm ein, durch heftiges Winken begleitetes: »Huhu!« entgegen, das Großvater mit einem kurzen Heben der Hand beantwortete. Dann eilte sie zur Wohnungstür, um seine Schritte auf der Treppe zu verfolgen, ihn begeistert in die Arme zu schließen, als hätte sie ihn wochenlang nicht gesehen und auch nicht mehr mit seiner Rückkehr gerechnet. Undenkbar für uns, dass sie einen anderen Mann auch nur angesehen hätte.

      Erst auf ihrem Sterbebett erwähnte sie einen Offizier, mit dem sie einmal spazieren gegangen sei. Natürlich war da nichts weiter, aber ein ruhiges Gewissen habe sie erst jetzt, wo sie es endlich gebeichtet habe und auf Großvaters Vergebung hoffe. Sie hatte viel leiser gesprochen als sonst. Großvater schwieg und lächelte, wie er meist lächelte, wenn er nichts verstanden hatte.

      Nach Großmutters Tod hatte Großvater plötzlich viel Zeit. Er kümmerte sich nur noch um seinen Garten, der am Rande der kleinen Stadt lag. Jeden Tag ging er in die Laubenkolonie, versorgte seine Blumen; und bog Punkt 16 Uhr um die Ecke seiner Straße.

      Immer noch den Kopf erwartungsvoll nach oben gerichtet.

       Familientisch

      Noch einmal am Familientisch

      mit Vaters Sonntagsbraten

      er hat von seiner Weihnachtsgans

      nie das Rezept verraten.

      Noch einmal satt mit dem Glas Wein

      in Mamas Sessel fallen

      willkommen und verstanden sein

      der schönste Platz von allen.

      Es lebe der Familientisch

      er soll noch lang bestehn

      weil immer einer vor der Zeit

      aufstehn muss und gehn.

      MEINE GROßELTERN II

      Meine Großeltern hielten es für selbstverständlich, dass die Familie sie regelmäßig besuchte. So mussten wir sonntags zum Kuchenessen und Doppelkopfspielen antreten: »Oh, bist du groß geworden! Bist du auch brav?!«, riefen sie jedes Mal fast wie aus einem Munde und umarmten mich heftig.

      Über die Welt wurde da nicht groß geredet. Meine Mutter versuchte manchmal von ihrer Arbeit zu erzählen, von den bedrohlichen Geschehnissen in der Welt, die doch alle beschäftigten, oder wie wichtig es ist, sich für den Frieden einzusetzen. Meine Großeltern schauten sie nur gelangweilt an, zumal sie der Meinung waren, Frauen sollten sich nicht mit diesen Dingen beschäftigen. Gut kochen können und lieb zum Ehemann sein, das genügte voll auf.

      »Ja, Krieg ist schlimm«, klagte meine Großmutter einmal. »Wir haben auch Opfer für den Krieg gebracht: jeden Monat fünfundzwanzig Mark für einen Bauernhof in der Ukraine, den wir dann nie gesehen haben!« Das Gesicht meiner Mutter verzog sich.

      »Und was wäre aus den Bauern geworden, die vorher ihr Zuhause dort hatten?« Meine Großmutter winkte ab »Na, die kannten wir ja gar nicht, hätten die auch nie zu sehen bekommen.«

      Meine Mutter schaute sie einen kurzen Augenblick unverwandt an, schluckte

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