»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland. Werner Rosenzweig
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Ganz in der Nähe jagte das erste Martinshorn sein lautes Tatüütata durch die stürmische Dunkelheit und kämpfte gegen das Gebrüll und das Tosen des Orkans an. Ein blauer Lichtschein rotierte in wilden, regelmäßigen Zuckungen und wurde von den Hauswänden gespenstisch zurückgeworfen.
Polizeihauptmeister Max Kruse stoppte den Streifenwagen, als eine schreiende, wild gestikulierende Menschenmenge auf das Polizeifahrzeug zulief. Der Geräuschpegel drang gedämpft durch die verschlossenen Pkw-Türen und vermischte sich mit den jaulenden Tönen des eigenen Martinhorns. Die ersten Blitze zuckten bereits ganz in der Nähe, und der unmittelbar einsetzende Donner hörte sich an, als spielte Petrus im Himmel Bowling. Die Erde schien aus ihren Fugen geraten zu sein. Kruses Kollege Gerhard Dillich schnallte sich ab, zog den Reißverschluss seiner Lederjacke bis zum Halsansatz hoch, öffnete die Beifahrertür und stürzte murrend ins Freie. Sofort war er von der aufgeregten Menschenmenge umstellt, die ihm in einem Wirrwarr an Fremdsprachen – so zumindest empfand es der Polizeibeamte – versuchte, etwas mitzuteilen. Weinende, triefnasse Menschen schrien ihren Schmerz in die Dunkelheit. »Gucken, hinter Haus, viele Tote«, schrie ein in seiner Nähe stehender Dunkelhäutiger. »Viel Blut, Kinder auch tot.« Er deutete in Richtung der Umzäunung. Ein heulender, in blaue Zuckungen getauchter Sanka des Bayerischen Roten Kreuzes fuhr um die Ecke und kam hinter dem Polizeifahrzeug zum Stehen. Sofort stürzten sich die verzweifelten und schockierten Asylbewerber auch auf das zweite Fahrzeug.
»Platz machen! Auf die Seite«, bemühte sich Gerhard Dillich wild gestikulierend um ein Durchkommen. Die dicken Regentropfen sausten wie wild gewordene Hummeln auf seinen ungeschützten Hals und liefen ihm in kleinen Bächen den Körper hinab. Seine olivfarbene Hose war bereits bis zu den Knien hinauf patschnass. Ein Sanitäter leistete ihm Hilfestellung. Gemeinsam gelang es den beiden, die wilde Horde so von den beiden Einsatzfahrzeugen abzudrängen, dass ein schmaler Weg zur Weiterfahrt frei wurde. Vorsichtig steuerte Max Kruse den Streifenwagen durch die Menschenansammlung. Der Sanitätskrankenwagen folgte ihm. Die Reifen der Fahrzeuge krochen knirschend über Glasscherben – Reste von Fensterscheiben, die durch den Druck der Detonationen aus ihren Rahmen geplatzt waren und nun über einem Teil des Hofes verstreut im Regenwasser herumlagen. Der Regen hämmerte weiter in die riesigen Pfützen auf dem welligen Asphalt.
Auch drüben, jenseits des Maschendrahtzaunes der Asylantenaufnahmestelle – dort, wo noch vor Kurzem der Attentäter seine Handgranaten gezündet hatte –, herrschte trotz des heftigen Regens ebenfalls eine rege Betriebsamkeit. Die Anrainer und Bewohner des nächstgelegenen Wohnhauses, deren nach Westen gelegene Fenster nur noch aus dunkel gähnenden, offenen Löchern bestanden, hatten sich dicht gedrängt am Zaun versammelt und glotzten unter einem Meer von bunten Regenschirmen heftig diskutierend auf das Gelände des Asylantenheims hinüber. Oben auf einigen der Balkone standen andere Hausbewohner mit schweren Taschenlampen bewaffnet und bemühten sich verzweifelt, mit ihren Lichtquellen den nächtlichen Regen zu durchdringen. Immer mehr Nachbarn aus der näheren Umgebung trafen ein, gesellten sich zu den Schaulustigen am Zaun und wollten aufgeregt wissen, was da drüben bei den Asozialen passiert war. Ein weiteres Einsatzfahrzeug fuhr auf den Hof. Wenig später begannen Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks drei starke Halogenscheinwerfer in Betrieb zu nehmen, welche kurz darauf die Szene gespenstisch ausleuchteten. Nun sah man den Regen, der in langen, schrägen Strichen auf die Erde prasselte, sich mit den Blutlachen vermischte und diese in den nächsten Gully spülte. Sanitäter in schweren Regenjacken trugen hastig Bahren und Leichensäcke über das Gelände und suchten verzweifelt nach Verwundeten und Überlebenden.
»Jetzt sehen wir wenigstens etwas. Das hat vielleicht einen Schlag gegeben«, erklärte Illona Seitz den Herumstehenden, »drei Mal kurz hintereinander. Ich war grad auf dem Abort gsessen, als die Fensterscheibe in meinem Bad in tausend Stücke zerscheppert ist. Da, schaut nur her, da am Hals hat mich eine Scherbe getroffen. Geblutet hab ich wie eine Sau.” Illona Seitz deutete auf die Stelle ihres Halses, wo nun ein kleines Wundpflaster klebte. »Da denkst du an nix Böses, sitzt am Abort und plötzlich fliegt dir das halbe Haus um die Ohren. Da machst du was mit, bis du alt und grau wirst. Was ist denn überhaupt passiert?«, wollte sie schließlich wissen.
»Ein Attentat auf das Asylantenheim! Bestimmt!«, mutmaßte ihr Nachbar, Beppo Brehm. »Bei mir sind auch die Fenster kaputt gegangen. Das schaut ja schlimm aus, da drüben! Da soll angeblich einer mit Handgranaten rumhantiert haben. Hab ich so übern Zaun vernommen. Ein Polizist hat so etwas Ähnliches gesagt.«
»Wer?«, wollte Illona Seitz wissen.
»Weiß ich doch nicht, ich kenn doch nicht alle Polizisten.«
»Nein, ich mein, wer hat mit Handgranaten rumhantiert?«
»Das weiß ich doch schon gleich gar nicht«, entsetzte sich Beppo Brehm, »bin doch kein Hellseher!«
»Das wundert mich nicht, dass die Handgranatn ham«, meinte eine Nachbarin von der gegenüberliegenden Straßenseite, »schaut euch doch des Gschwerdl da drüben an. Wo sie nur alle herkommen? Die meinen, bei uns da ist das Schlaraffenland, wo Milch und Honig fließen. Wo man nix ärwern muss! Wo einem der Staat das Geld hinten und vorn nur so reinstopft! Das Gschwerdl kennt doch seine Rechte viel besser als unsereins. Da siehst du mal wieder, was die alles ham: