Im Nebel kein Wort. Frank Hebben
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Wo bringst du mich hin?, fragt Lilja hinter ihr. Ein Kloster? Was –
Herrgott! Kannst du nicht Ruhe geben?
Was für ein Kloster?, beharrt sie.
Wirst ja sehen …
Am Überhang ragt ein Tropfstein in die Tiefe wie ein Reißzahn; links wird der Durchbruch von Fichten gerahmt. Noch Fels, noch fester Tritt, bis der Waldboden nachfedert: Ein Nadelteppich dämpft ihre Schritte. Es riecht nach Myrrhe. Farne sprießen und Moos.
Als hätten sie ein Tor passiert, bricht die Sonne plötzlich ab, sie folgen dem schattigen Pfad — ins Tannendunkel, wo die Stämme dicht an dicht stehen; unten kahles Geäst, wachsgelbes Harz klebt; und nur spärliches Licht dringt durch die Wipfel.
Wippender Zweig, landet ein Eichelhäher, um seine Beute zu äsen: rupft rotes Fleisch aus dem Fell einer Maus; und fliegt schnarrend auf, als ein Windstoß die Bäume schüttelt …
Staubige Luft.
Mir ist flau, seufzt Lilja und kippt um, liegt im Dreck, auf Tannennadeln und Steinchen, verkrampft sich, und ihre Lider flattern, während unter ihrer Haut die Signatur vom Rücken, vom Schulterblatt, am linken Ohr vorbei, bis zur Schläfe kriecht, silbrig wie Wasser im Mondlicht. Sie träumt, vom kitzelnden Bart ihres Vaters, wenn er sie küsst: Gute Nacht, mein Engel. Von ihrem Bett, dem kühlen Stoff, den Daunen in bestickten Kissen. Andrejs Stimme. Einem Teller in der Küche, der scheppernd zerbricht. Und wie sie das Gewehr anlegt, den Schluss an einer Stirn platziert; nochmals abdrückt.
Schreckt auf! Abends; ein Lagerfeuer brennt auf einer Lichtung, die Tannen im Hintergrund sind Geister. Dostya hat Grassoden eckig ausgestochen und beiseitegelegt und das Feuer mit einem Steinring gesichert – die Zeltbahn, im Rücken, an Sträucher geknotet und daneben der Schirm aufgespannt; großer und kleiner Wärmespiegel. Die Wäsche trocknet. Vorne ist Nadelholz geschichtet: Harzgallen platzen, versprühen Funken und Qualm, der in ihren Augen beißt, weil das Feuer schwelt; endlich aufprasselt, als ein kühler Hangwind weht.
Eng beisammen, mit ihrem Mantel bedeckt: Dostya hat den Arm um Lilja gelegt und hört, wie das Mädchen leise weint; beide starren zur Glut, wo ein Windhauch die Asche zerwühlt. Die Scheite glosen. Es knistert und knackt. Ich war Krankenschwester, sagt sie, um etwas zu sagen.
Hm?
Kurz nach Weihnachten, nach der Schlacht von Verdun, wir verluden gerade Invaliden in einen Lazarettzug, da fielen diese Splitter vom Himmel. Erst dachten wir noch: ein Beschuss, nur kein Laut, kein Flattern oder Sausen wie bei Granaten, nein, sie sanken so still wie der Schnee.
Das klingt schön, flüstert Lilja.
Dostya schüttelt den Kopf. Ganz in der Nähe ging einer davon runter, riss einen kleinen Krater ins Feld – lag, oder vielmehr stand er dort, funkelnd hell, wie ein Christbaum.
Seine Tränen …
Schwarzes Manna. Die zerbrochenen Schalen. Nenn’s, wie du willst!
Der Stein hat uns irgendwie … angelockt: eine Stimme, ganz leise, im Kopf. Nur an diesem einen Tag konnte ich sie hören, später nicht mehr.
So ein Flüstern?
Genau.
Lilja blickt auf. Ich habe ein Wort davon behalten. Willst du wissen, welches?
Ehrlich?, staunt sie.
Sei …
Sei was‽, fragt Dostya laut.
Woher soll ich das wissen?
Sie streicht Liljas fettiges Haar aus dem Nacken, um ihre Signatur zu sehen: silberne Muster, Kreise. Armes Kind. Blutjung und schon gezeichnet.
Was uns gar nicht in den Sinn kam, fährt sie fort, dass es eine neue Waffe hätte sein können, etwas Chemisches; etwas aus den Laboren des Feindes – eine Kriegslist, verstehst du?
Wie das trojanische Pferd?
Hallo! Sie hat in der Schule aufgepasst.
Kannst du das nicht einfach lassen?
Von mir aus, grient sie.
Danke.
Sternklare Nacht, ein Halbmond steigt. Der erste Tau. Unter der Kapuze des Lodenmantels lugt Lilja zum Busch, aus dem die Matrone gerade zwei dicke, grüne Äste schlägt und mitbringt.
Es wird eiskalt heute, sagt Dostya, während sie beide Knüppel schräg ins Glutbett rammt, dann Scheite zu einer Holzwand stapelt.
Was machst du da?
Ein Kaminfeuer.
Ja?
Pass auf, Kind – das ist wichtiger als Algebra: Diese Schräge strahlt die Wärme zu uns her, und wenn das untere Scheitholz zerfällt, rutscht das obere gleich nach. Kapiert?
Ein Feuer, das sich selbst nachlegt.
Richtig, lobt Dostya. So können wir in Ruhe durchschlafen. Kriegst dafür ein Fleißbienchen …
Du wolltest damit aufhören.
Stimmt.
Beide in Decken, in den Mantel eingehüllt. Erzähl mir von deinen Eltern …
Papa ist unser Dorflehrer, beginnt sie, und –
Ich wusste es, lacht Dostya. Wirklich?
Lilja streckt ihr die Zunge raus: Das hast du dir verdient! Nein, er war Anwalt, in einer Kanzlei in Leipzig, bevor die großen Städte –
Und jetzt?
Ein Tischler, wie mein Opa. Sie dreht sich zum Feuer. Manchmal riecht er nach Malzbonbons; das mag ich gern.
Wohl mehr nach Bier.
Er trinkt nicht.
Wenn du das sagst. Und deine Mutter?
Hatte Scharlach, da war ich vier, und ist daran gestorben.
Oh, tut mir leid zu hören.
Na ja, seufzt Lilja. Ist lange her.
Wer war der Junge?
Andrej, sagt sie.
Ein Verehrer von dir?
Funken steigen und verglühen. Ein Nachtvogel ruft.
Was war mit dem Christbaum?, fragt Lilja leise.
Ach … Sie nickt. Weißt schon.
Nein?
Zuerst kam ein Soldat an die Reihe, dem das Bein verfaulte, dieser elende Wundbrand; auf Krücken stand er da, streckte die Hand aus: Ich sah es auf