Die Ratte kommt. Lydia Drosberg
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Читать онлайн книгу Die Ratte kommt - Lydia Drosberg страница 6
Er kriecht mit hochrotem Kopf auf der Erde entlang und schafft es gerade so, auf den Hof zu gelangen. Dort macht er sich schimpfend bemerkbar. „Was soll das denn, ihr spielt hier und ich bekomme kein Wasser zum Waschen und kein Essen! So geht das aber nicht!“
Die Mädels schämen sich unheimlich, ihren Vater vergessen zu haben. Wie er da so auf dem Fußboden liegt, tut er ihnen unendlich leid. Auf einmal wissen sie ganz genau, wie sie handeln müssen. Erst helfen sie ihm ins Bett, dann rennen sie schnell los, um alles zu erledigen. Eine flitzt und holt die Wasserschüssel mit frischem Wasser. Die andere bringt die Handtücher und die dritte sorgt dafür, dass das Frühstück neben dem Bett steht.
Dieses Erlebnis hält sie aber nicht davon ab, den alten Rollstuhl, den Mutti von Oma für Vati geliehen hat, zum Spielen zu benutzen. Das alte Monster zieht sie magisch an. Ein großer, schwarzer Lederstuhl mit drei Rädern - zwei große neben dem Stuhl und ein kleines, bewegliches in der Mitte hinten. Die Fußstütze, ein schwarzer Holzkasten, kann man hoch- und runterklappen. Durch das dritte Rad, das bewegliche, ist der Rollstuhl ganz schön mobil. So kann man sich mit ihm blitzschnell um die eigene Achse drehen. Das macht großen Spaß.
„Kommt, wir spielen mit dem Ding draußen“, schlägt Marlene vor. Es ist gerade Nachmittag und die Stahlwerker kommen von der Schicht nach Hause. Marlene sitzt im Stuhl, Ela steht dahinter und versucht, ihn mit voller Kraft in Gang zu bringen. Erst geht es ziemlich schwer. Dann fängt sie an zu rennen. Zum Schluss rast der Rollstuhl fast von alleine los. Das bringt Marlene auf eine Idee: „Ela, komm, setz du dich jetzt mal rein!“
Sie rennt mit Eleonora und dem Wagen einer ganzen Traube Arbeitern entgegen. Kurz bevor sie sie erreichen, gibt sie dem Ungetüm noch einen gewaltigen Schups und Eleonora rast samt Rollstuhl in die Menschenmassen. Eleonora schämt sich fast zu Tode, als sie so durch die vielen Arbeiter rast. Die springen schnell zur Seite. Manche schimpfen, manche finden es auch witzig und lachen über meine Schwestern.
Die Peinlichkeit ist schnell vergessen und das Spiel geht von vorne los. Wer auf dem Stuhl sitzt, schämt sich und schreit, und der andere schupst und lacht sich halb kaputt.
Annedore ist eigentlich ein süßes Mädchen, jedoch mit sich und ihrer Umwelt nicht ganz zufrieden. Zum Beispiel ärgert sie sich ständig, dass Eleonora und Marlene solche schönen lockigen Haare von meinem Vater geerbt haben und sie nicht. Zudem hätte Anne auch liebend gerne ein Instrument gespielt. Doch meine Eltern sind erst bei Eleonora und Marlene auf die Idee gekommen, ihre Kinder in die Musikschule zu schicken. Einmal kommt sie zu mir in mein Bett, umklammert mich und weint bitterlich: „Du hast so eine zarte Haut und ich so ein beschissenes Pickelgesicht.“
Kein Wunder, geht es mir durch den Kopf, ich bin erst fünf Jahre alt und du 15, mitten in der Pubertät. Dabei muss sie gar nicht so jammern! So schlimm wie sie tut, sieht sie doch gar nicht aus. Irgendwie kann sie das Leben nicht so nehmen, wie es ist. Mutti macht sich große Sorgen um Anne. Meine Schwester fühlt sich schon frühzeitig für Ela und Marlene verantwortlich. Es kommt schon mal vor, dass sie die beiden mit ihren Fäusten verteidigt.
Einmal kommen alle drei vom Kindergarten, da begegnet ihnen ein Mann mit Motorrad. Der fragt: „Will nicht eine von euch mit mir eine Runde drehen?“ Ela und Marlene sind schon ganz heiß auf die Motorradfahrt. Sie reißen und ziehen an Annes Hand und streiten sich, wer zuerst mit dem Mann mitfahren darf. Anne hält die beiden mit Gewalt fest. Zu dem Motorradfahrer sagt sie unmissverständlich, dass sie jetzt nach Hause müssten.
„Ein Glück, dass Anne so reagiert hat“, sagt meine Mutter später. „Wer weiß, was sonst noch passiert wäre?“
Meine Mutter kann sich hundertprozentig auf Anne verlassen, wenn sie ihr die Kleinen anvertraut. Lange vor dem Ereignis ist sie, um das zu prüfen, den dreien hinterhergeschlichen. Sie wirft sich einen alten, schwarzen Mantel mit Kapuze über und fängt extra stark an zu humpeln. Die drei merken schon lange, dass jemand hinter ihnen her ist und bekommen es mit der Angst zu tun. Jetzt fangen sie an zu rennen. Doch die unheimliche Frau beschleunigt ebenfalls ihren humpelnden Gang. Annedore, Eleonora und Marlene erreichen gleich ihr Ziel. Noch ein paar Schritte und sie können der bösen Frau durch unser Gartentor entfliehen. Schnell öffnet Annedore die Tür und lotst ihre kleinen Geschwister hinter den rettenden Zaun. Dabei wirft sie noch einen letzten Blick auf die schreckliche Gestalt. Die bleibt ebenfalls stehen, zieht ihren Mantel aus und lacht sich halb kaputt. „Mutti“, ruft Anne ungläubig, „was machst du denn hier?“ Mutti weiß jetzt, dass sie sich auf Anne verlassen kann.
In der Schule ist Anne immer gewissenhaft und fleißig, so wie Vati auf der Arbeit. Ihre Klassenkameradinnen will sie nicht mit nach Hause bringen, denn sie hat ihnen erzählt, dass wir ganz tolle Spielsachen besitzen. Was natürlich nicht stimmt. Die Angeberei der anderen ist ihr mächtig auf die Nerven gegangen. Da erfand sie halt unsere tollen Spielsachen. Nun muss sie aufpassen, dass ihre Lügen keine langen Beine kriegen!
Anne wehrt sich lange gegen das Eintreten in die FDJ – wegen der Kirche. Ihre Klassenlehrerin stellt sie jeden Tag deswegen zur Rede. Bis sie keine Lust mehr hat, auf ihre Fragen zu antworten und doch noch in die FDJ geht. Dort muss sie jeden Tag sagen: „Das geloben wir!“ Diese Aussage gefällt ihr ganz und gar nicht und sie wandelt den Satz einfach um in: „Das globen wir!“ Obwohl das ja fast dasselbe bedeutet, hilft es ihr, den Satz zu entschärfen. Vati hat uns mal erzählt, dass die Leute im Krieg anstatt „Heil Hitler“ „Heil Schitler“ gerufen haben, um ihrer Überzeugung treu zu bleiben. Ich glaube, diese List hat Anne hier auch angewendet.
Vati wäre es am liebsten, wenn Anne so schnell wie möglich die Schule verlässt und selbst Geld verdient. Doch ihre Lehrerin ist da anderer Meinung: „Anne, du bist doch so ein intelligentes Mädchen, warum machst du denn nicht zehn Klassen?“ Anne gesteht, dass sie eigentlich weiter zur Schule gehen will. Die Klassenlehrerin schreibt kurzerhand einen Brief an den Betrieb, in dem Anne lernen soll, und ermöglicht ihr damit, zwei Jahre weiter in die Schule zu gehen.
Eleonora ist die Hübscheste von uns allen. Mit langen Locken und viel Charme erobert sie die Herzen ihrer Familienmitglieder im Sturm. In der Schule kann sie die Lehrer anschauen, als würde sie sich nur für den Unterricht interessieren. Dabei ist sie schon längst in ihre Fantasiewelt verschwunden. Am liebsten hält sie sich zu Hause bei Mutti und ihren Geschwistern auf. Ela ist meistens sehr umgänglich und angepasst. Doch wenn ihre Schwestern Dummheiten aushecken, will sie natürlich auch mit dabei sein. Wenn meine Eltern nach einem langen Tag in Ruhe gelassen werden wollen, dann geht es für die drei erst richtig los. Sie toben, dass sich die Balken biegen. Das neueste Spiel heißt: Von einem kleinen Schrank auf einen großen Schrank klettern und dann vom großen Schrank ins Bett der Eltern springen. Das macht großen Spaß und wird so lange wiederholt, bis Vati kommt, um den Mädels eine Tracht Prügel zu verpassen. Doch wenn Vati sich ein Kind schnappt, um es zu verdreschen, brüllen die anderen so laut, dass die Nachbarn denken, Weddings bringen ihre Kinder um. Die drei schwören bei allem, was ihnen heilig ist, nie wieder unartig zu sein. Doch kaum ist Vati aus der Türe raus, geht die Sache von vorne los!
Einmal bedarf es nicht einmal der Androhung von Prügel, um sie zur Vernunft zu bringen: Meine Schwestern sind allein zu Hause. Sie üben Salto vorwärts über die Bettkante von einem in das andere Bett. Plötzlich hören sie unter sich ein Geräusch. Es ähnelt einer menschlichen Stimme, die etwas unheimlich und langgezogen „Hu“ sagt.
„Habt ihr das eben gehört?“, fragt Annedore.
„Ja“,