Die Ratte kommt. Lydia Drosberg
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Eleonora geht zur Musikschule und lernt zuerst Akkordeon und dann Klavier spielen. Sie hat mal erzählt, dass der Lehrer in der Musikschule stets hinter ihr steht und an ihrer Schulter und ihren Haaren herumstreichelt. Das kommt ihr sehr seltsam vor. Doch da er nur ihre Haare und ihre Schultern berührt und sie obendrein kräftig lobt, ist es dann doch nicht so schlimm.
Ela kann auch gut andere Leute nachmachen. Sie stellt sich vor den Spiegel und nennt das Pantomime. Am besten gefällt mir, wie sie meinen Vater imitiert, wenn er seine Tabletten schluckt. Das ist echt bühnenreif. Sie nimmt die imaginären Tabletten, tut so, als wenn sie einen Schluck Wasser hinterherkippt, schüttelt alles mit gesenktem Kopf in ihrem Mund durcheinander, um dann das Fantasiegemisch mit einem Ruck in ihrem Rachen verschwinden zu lassen.
Marlene und Ela sehen sich ziemlich ähnlich. Deshalb halten Fremde sie oft für Zwillinge. Doch Marlene ist in Wirklichkeit über ein Jahr jünger als Ela, und vom Wesen her trennen sie Welten.
Marlene ist wild und voller verrückter Ideen. Sie bringt alle ihre Freundinnen mit nach Hause und ist überall beliebt. In die Schule geht sie gern und in der Hofpause ist sie immer von einer Traube Mädchen umringt. Ihre treueste Freundin ist Martina, mit ihr geht sie durch dick und dünn. Die witzigen Ideen sprudeln nur so aus Marlene heraus.
Als Eleonora und Marlene gemeinsam vom Religionsunterricht kommen, hat Marlene zum Beispiel mal wieder solch eine glorreiche Idee: „Komm, Ela, wir werfen jetzt unsere Taschen soweit wir können nach vorne. Guck mal, so!“ Und sie demonstriert ihrer Schwester, wie sie es meint und schmeißt ihre Tasche im hohen Bogen in die Weltgeschichte. Das Spiel kann beginnen. Sie pfeffern ihre Taschen in die gezeigte Richtung. Ein, zwei Mal mit Erfolg. Das dritte Mal landet Marlenes Tasche in einem Vorgarten, genau unter einem Fenster, das offen steht.
„Mist, was jetzt?“, fragt Ela.
„Los, du stehst Schmiere und schaust, ob die Leute nicht grade aus dem Fenster gucken, wenn ich in ihrem Vorgarten rumkrieche“, sagt Marlene schelmisch.
Marlene schleicht an der Gartenpforte vorbei, huscht hinter den nächsten Busch, kämpft sich unterm Fenster vorbei und schmeißt sich in den Dreck, um ihre Tasche zu bekommen.
Ela jammert: „Marlene, mach schnell, dahinten kommen Leute!“
Marlene robbt auf dem Bauch dem Ausgang entgegen und kommt auf allen vieren aus der Tür herausgekrochen. „Wo sind denn die Leute?“, fragt sie.
„Die sind zum Glück da hinten abgebogen. Aber im Haus war jemand. Der schaute immer so komisch her. Jetzt ist er wieder verschwunden“, meint Eleonora.
Ela hilft Marlene hoch und sie rennen lachend davon.
Oder ein anderes Beispiel: Anne, Ela und Marlene kommen von der Kirche nach Hause. Marlene stiftet sie dazu an, im Gleichschritt zu laufen. „Los, rechts fangen wir an!“, befiehlt sie. „Rechts, links und rechts, links!“ Die Mädchen sind so mit ihrem Gleichschritt beschäftigt, dass sie gar nicht mehr auf die Straße achten. „Und rechts und links“, müssen sie sich immer wieder sagen, um nicht aus dem Tritt zu kommen. Sie geraten dabei etwas auf die rechte Seite der Straße. Ehe sie sich versehen, knallen sie heftig gegen die Hinterseite eines stehenden Autos. Ein Mann, der sie dabei beobachtet, schüttelt vor Verwunderung den Kopf. „So viel Blödheit geht ja auf keine Kuhhaut“, sagt er und wendet sich achselzuckend ab.
SONJA
Marlene geht auch zur Musikschule, sie lernt bei Herrn Deckert Geige spielen. Dort hat sie Sonja kennen gelernt. Sonja ist im Sommer bei uns.
Ich sitze gerade auf unserem Kirschbaum und lasse die Beine baumeln. Ein Ast des Baumes ist so gewachsen, dass man gut drauf sitzen, aber auch „Schweinebaumeln“ daran machen kann. Sonja gesellt sich zu mir und fängt an, mit mir zu quatschen. Dabei steckt sie sich eine Kirsche nach der anderen in den Mund. Sie isst die Kirschen mit so viel Genuss, dass es eine Freude ist, ihr dabei zuzuschauen. Ich weiß aber, dass die Kirschen dieses Jahr voller Maden sind und teile es Sonja mit. Die sagt nur: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, und futtert genüsslich weiter. Habe ich mich vielleicht getäuscht und es sind gar keine Maden in den Kirschen? Ich esse genau so gerne Kirschen wie Sonja und es wäre toll, diese Früchte verspeisen zu können. Von außen sehen sie ja sehr lecker aus. Doch halt, ich werde mal nachschauen, wie es in der Frucht aussieht. Ich teile die Kirsche in zwei Hälften. Igitt, vier Maden tummeln sich darin. Ich habe es doch gewusst, dass man die Früchte nicht essen kann, denke ich verächtlich. Jetzt ist mir der Appetit auf Kirschen gänzlich vergangen. Wie Sonja die Maden runterschlucken kann, ist mir ein Rätsel!
DIE KINDER IN UNSERER STRASSE
In unserer Straße gibt es eine ganze Menge Kinder für meine Schwestern zum Spielen. Da sind die zwei Mädchen, die am Anfang der Straße wohnen, Bolle und Kläuschen, Herolds Kinder, Iris Sander und die vielen Kinder von Kopinskies. Iris beschäftigt sich gerne mit unseren Mädels, obwohl sie schon etwas älter ist und in einer ganz anderen Liga mitspielen könnte.
Mutti sagt immer: „Du bist doch schon viel zu alt für meine Kinder, die passen doch gar nicht zu dir.“
„Mir macht es aber solchen Spaß, mit ihnen zu spielen“, verteidigt sich Iris.
Was soll meine Mutter dazu noch sagen?
Iris hat immer lustige Ideen. Da ist sie bei meinen Schwestern an der richtigen Adresse. Iris schnappt sich Marlene, verfrachtet sie in unseren alten Kinderwagen und legt ein, zwei Decken über sie. Obendrauf thront unser Kater Peter. So sieht es aus, als würden sie mit Peter spazieren gehen.
Anne und Ela geben drinnen Bescheid: „Mutti, Marlene ist weg, wir müssen sie unbedingt suchen.“
Iris rennt mit dem Kinderwagen voraus und meine beiden Schwestern hinterher. Draußen freuen sie sich diebisch über die gelungene Täuschung und spazieren noch eine ganze Weile die Straßen hoch und runter.
Kläuschen ist ein gutmütiger Kerl. Er hilft meinen Schwestern, wo er nur kann. Meine Schwestern dürfen nur raus, wenn sie bestimmte Arbeiten erledigt haben. Davon gibt es viele, zum Beispiel Unkraut jäten oder Gras holen. Oder, wie in jenem Sommer, Holz sägen. Denn eines Tages hält bei uns ein Eisenbahnwaggon mitten auf der Strecke und es werden Berge von Holz abgeladen. So ziemlich jeder aus unserer Straße kommt mit Schubkarren, Handwagen oder Eimer, um sich seine Portion vom dicken Kuchen zu holen. Gutes, trockenes Holz zum Verfeuern. Anne schuftet wie eine Alte, sodass Mutti schon wieder Angst um sie hat. Ich darf auch mit. Wir wühlen tagelang in dem Holz herum und holen raus, was nur rauszuholen ist. Es geht alles gut. Bis zu der Spanplatte, die zweimal größer ist als ich und voller Nägel steckt.
„Vati, ich kann sie nicht mehr halten!“, schreie ich. Dann rutscht sie mir aus der Hand und ich spüre einen Schmerz im Oberarm. Dabei merke ich, wie ich im wahrsten Sinne des Wortes an der Spanplatte festgenagelt bin.
Mein Vater kommt angerannt und befreit mich von der Last und zieht mir dabei den Nagel aus dem Arm. „Mädel, die ist doch viel zu groß für dich!“ Erst dann sieht er die Bescherung. Ela kommt herbeigeeilt und zieht mir den Pullover aus. Sie stellt fest, dass ich ganz schön blute. Dann nimmt sie meinen Oberarm in den Mund und saugt daran. Angeekelt spuckt sie das Blut wieder aus. Sie saugt noch und noch einmal, als hinge ihr Leben davon ab. „So kannst du wenigstens keine Blutvergiftung bekommen“, erklärt sie mir. „Das habe ich in einem Film gesehen.“ Zum Schluss wickelt sie