Die den Weg fanden. Группа авторов
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Ich schrieb. Und holte sie bei nächster Gelegenheit ein, als sie sich den Schnürsenkel zuband. So ging das einige Male. Dann geschah es nicht mehr. Sie war weg. Oder ich war weg. Je nach Sichtweise. Wann ich sie das letzte Mal sah? Ich weiß es nicht. Es ist auch egal auf diesem Weg, denn er ist symbolisch wie das Leben: Man begegnet sich, die Wege kreuzen sich nur oder laufen kurz nebeneinander her, um sich dann wieder zu trennen. Manchmal für kurze Zeit, manchmal auf Dauer. Und manche Begegnungen hinterlassen Spuren, und seien sie noch so klein.
Elsdorf, im Herbst 2017
Kay Löffler
Kay Löffler
Der alte Mann und der Weg
Allein.
Die staubige Römerstraße zieht sich in sechs- bis achthundert Metern Höhe schnurgerade dahin. Er erkannte Fußabdrücke, dann die Vertiefung von Hufen und hin und wieder auch die Abbildung einer mittelgroßen Hundepfote.
Die Hufabdrücke wirkten zu klein für die eines Pferdes. An den tiefsten Stellen war die Spur noch feucht. Nicht weit vor ihm mussten also die zwei Spanier mit ihren Maultieren sein.
Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass er nun einundzwanzig Tage auf dem Jakobsweg unterwegs war. Etwas über vierhundert Kilometer hatte er hinter sich gelassen. »Ab zweihundert Kilometern«, hatte ein anderer Pilger gesagt, »ist man eingelaufen.« Da ist etwas dran. Automatisch setzt der Körper einen Fuß vor den anderen, spulen sich Kilometer um Kilometer unter den Sohlen ab. Nur sein rechter Fuß schmerzte noch etwas. Und seit zweihundert Kilometern warteten Tränen hinter seinen Augenlidern. Er aber wollte nicht weinen, ohne den Grund zu kennen. Er hatte seit dreißig Jahren nicht mehr geweint, warum sollte er ausgerechnet jetzt …? Andererseits: Er hatte dreißig Jahre nachzuholen. Wurde er sentimental?
»Vielleicht nur normal«, sagte er zu sich selbst.
In seinem Kopf setzte sich ein Lied fest: »Wand’rin Star« aus diesem alten Western, mehr gebrummt als gesungen von einem Schauspieler namens Lee Marvin. In einer Endlosschleife blieb es für Stunden gefangen in seinem Schädel. Endlos wie der Weg vor ihm. Singen konnte er auch nicht, aber wenigstens brummen.
»I was born under a wand’rin star …«
Tief atmete er ein, diese warme Luft. Am Wegesrand Kornblumen und Mohn, es roch nach Heu und Steppe und er vermisste den gestrigen Duft der Pinienwälder, der ihn an Urlaube in kindlicher Unbeschwertheit erinnert hatte, an eine Zeit vor seiner Pubertät, als er noch mit seinen Eltern gemeinsam zum Camping nach Italien fahren konnte, ohne dass es zu täglichen Auseinandersetzungen mit dem Vater kam. Ewigkeiten war das her. Seltsam, dachte er, dass auf diesem Weg immer wieder Kindheitserinnerungen an die Oberfläche drängen.
Eine Vogelstimme klang wie das Zwitschern eines Delfins; ein anderer, unsichtbar bleibender gefiederter Freund schien tatsächlich »Buen Camino« zu grüßen. Wenn man zu lange alleine ist und zu lange nachdenkt, dann gelangt man in Ebenen jenseits der Alltagsrealität.
Allein. Man kann laut schreien, wenn die Stille stört. Oder laut singen, Gedichte rezitieren, fluchen oder einfach nur Dampf ablassen. – Nach einem vorsichtigen Blick zurück, ob niemand aufgeholt hat in der letzten Stunde. Oder man genießt die Stille.
Eine Ameisenstraße verlief quer über den Weg und eine große, gelbe Echse huschte ihm fast über die Füße. Eine gut achtzig Zentimeter lange Schlange lag tot am Rand und Schmetterlinge, schwarzweiße und zitronengelbe, begleiteten ihn einige Meter. Eine dicke Raupe ging ebenfalls den Camino in Richtung Santiago. Sicher würde sie es nicht schaffen, würde sie sterben unter den Füßen eines unachtsamen Pilgers. Aber wer auf dem Weg stirbt, so heißt es, kommt direkt in den Himmel. Glückliche Schlange!
Dann verließen seine Gedanken den Pfad.
Er hatte, wenn alles gut ging, noch fünfzehn, zwanzig Jahre zu leben. Früher war der Tod so unendlich fern, war nur eine Möglichkeit von tausend anderen, eine Gefahr von tausend anderen, deswegen schon fast unmöglich. Nun war er eine Gewissheit, mit der er rechnen musste in wenigen Jahren. Jahren, die immer schneller vergingen. Was tun mit diesen Jahren? So leben, wie bisher?
… Ich bin noch nicht alt … Aber nur noch fünfzehn, zwanzig … Diese Schmetterlinge … Als wollten sie mir den Weg zeigen … Ob ich eine Unterkunft …? … Egal. Ich will ihn gehen, diesen Weg, nicht rennen. Und es kommt, wie es kommt. … Fünfzehn, zwanzig Jahre. Wenn ich bedenke, wie schnell die letzten zehn Jahre … Ich brauche keinen Grund für diesen Weg. Es war einfach an der Zeit, ihn zu gehen … Was pflanzen die hier? Gerste? … Nur noch fünfzehn … Was glitzert da in der Sonne? Glasscherben? Hier auf dem Weg? Höchstens zwanzig Jahre, und in welchem Zustand? Ich sollte das Rauchen wieder anfangen. Jetzt ist es ohnehin egal und dann habe ich wenigstens noch etwas vom Leben …
Er hörte seine Schritte. Der rechte Fuß klang anders als der linke. Hätte er ihn nicht gespürt, diesen dumpfen Schmerz in diesem rechten Fuß, so hätte er ihn auch am Geräusch des Schrittes erkannt.
Ein kleiner Bachlauf lag vor ihm, Frösche quakten in ständigen Variationen. Er blieb stehen, kramte seine Kamera heraus, hielt sie vor die Augen. Nein. Er bückte sich mühsam, um einen besseren Winkel zu erhalten, legte sich schließlich auf den Boden, drückte ab. Und im Moment des Abdrückens, als die Kamera dieses mechanische Geräusch einer alten, analogen Kamera imitierte, setzten seine Gedanken wieder ein:
Ich verfälsche bei jedem Foto die Wahrheit. Schon mit dem Festlegen des Bildausschnittes. Der spätere Betrachter des Fotos weiß nicht, dass neben dem romantisch-einsam gelegenen Weiher in Wirklichkeit eine Autobahn verläuft oder rechts neben dem Bildausschnitt ein Hochhaus steht. Und ähnlich verhält es sich doch mit unserer alltäglichen Sicht der Dinge: Wir wissen nur, was wir sehen, fühlen, riechen, schmecken, hören, denken. Wir wissen nicht, was außerhalb unserer Sinne und unseres Verstandes ist. Und dennoch erheben wir Anspruch auf den Besitz der universellen Wahrheit. Einschließlich dem Begreifen Gottes. Doch zu sagen, dass es so ist und nicht anders, hieße schon wieder Anmaßung.
Leise ächzend stand er auf, schnürte seinen Rucksack nach und ging weiter, brummend: »I was born under a wand’rin star …«
Ich muss mir die Kniekehlen eincremen. Die Sonne kommt immer von hinten oder von links. Einen Sonnenbrand in den Kniekehlen, das hätte mir gerade noch … Diese blauen Blumen, das sind doch Kornblumen, oder? Dachte, die wären ausgestorben …
Am Wegesrand hing Jesus einsam an einem Kreuz.
Da fällt mir ein: Lange nicht mehr genagelt … Und lange nicht mehr Hand in Hand gegangen und Vertrautheit gespürt und Zärtlichkeit und … und …
Und dann schalt er sich selbst wegen seiner Blasphemie. Dabei war er kein Christ, dabei konnte er nicht glauben, nur hoffen.
Angeblich sollen die Galicier sagen: »Ich glaube nicht an Hexen. Aber es gibt sie.« Ähnlich erging es ihm. Er glaubte nicht an Gott, an seltsame Energieflüsse und an mystische Dinge und spirituelle Begegnungen. Das überließ er den abgedrehten Spinnern, den Selbstdarstellern, die sich auf diese Art in den Vordergrund drängen, um aus der Versenkung ihrer Mittelmäßigkeit aufzutauchen. Manchmal ganz sympathisch, aber eben Spinner. Andererseits hatte er in den letzten Tagen immer wieder das seltsame,