Drei Dekaden. Hermann Ritter
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Aber es gilt weiterhin, dass die Existenz von Riten und Formen für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft wichtig ist. Die Regeln sorgen für eine Sicherheit im Ritus, für ein Gemeinschaftsgefühl bei den Feiern.
d. Hitze und Energie
Magie ist das Gespür für und das Erkennen von Energien, die dieses Universum schufen und im Gang halten.
Ich habe nicht wirklich zaubern gelernt. Es tut mir leid, wenn ich das zugeben muss. Bis heute77 kann ich keine Krankheiten heilen, keine Kaffeemaschinen reparieren oder Dämonen austreiben. Anders ist die Frage, ob ich Situationen zulassen kann, in denen solche Dinge – die wir eigentlich als unnatürlich oder übernatürlich bezeichnen würden – geschehen können. Viel wichtiger als der Einsatz einer aus einem selbst kommenden Gabe ist die Fähigkeit, die Umgebung (das setting) davon zu überzeugen, dass gewisse, den üblichen Gesetzen der Realität widersprechende Dinge zugelassen werden können.
Der Magier ändert nichts am Gegenstand, den er verzaubern will – er ändert etwas an der Welt, die den Gegenstand umgibt und verändert somit den Gegenstand und sein Verhältnis zur Welt.
Anfangs, in den ersten Jahren meiner Ausbildung, war es gerade die duale Ausrichtung des Glaubens, die mir Halt verschaffte. Hier waren die Dinge einfach und locker in ein Schwarz-Weiß-Schema zu pressen. Es gab die Gottheit, die eins war, und trotzdem geteilt in ein männliches und ein weibliches Prinzip. Es gab Hell und Dunkel, Gut und Böse, Kalt und Warm, Göttin und Gott. Aber umso mehr ich mich mit der Frage beschäftigte, was hinter den Dingen liegt, die ich beobachten kann, desto mehr wurde mir klar, dass diese Dualität eigentlich nicht besteht. Alles ist eins, ist miteinander verbunden. Nicht immer kann ich die Verbindungslinien sehen, aber sie sind vorhanden – wenn auch getarnt oder versteckt oder schwer zu sehen. Manchmal ist die Zahl der Verbindungen so hoch, dass ihnen mein begrenzter Verstand nicht folgen kann. Aber die Verbindungen sind trotzdem vorhanden.
Der Dualismus ist ein künstlicher Dualismus, weil er trennt, wo Dinge eigentlich verbunden sind, und verbindet, wo Dinge eigentlich getrennt sind. Die Welt ist nicht in Dichotomien einteilbar; die Welt ist vielschichtiger, als wir es begreifen können. Der Dualismus hilft, die Extreme zu erkennen. Aber man muss den Dualismus transzendieren, um die Extreme aufheben zu können.
e. Asche
So will ich trachten zu tragen meinen Teil an Leid und dankbar zu empfangen meinen Teil an Freude.
Ich war fast ein Jahrzehnt in diesem Coven. Er hat mir viele Dinge gegeben, die ich gesucht habe – Nähe, Freundschaft, Wärme und Zuneigung. Darüber hinaus erfuhr ich, wie es ist, im Kreis mit anderen Menschen zu arbeiten, wie man gemeinsam Entscheidungen trifft, ohne dass sich nachher jemand ausgegrenzt oder beleidigt fühlt. Ich erfuhr eine Menge darüber, wie es ist, wenn man in Ritualgewänder gehüllt nachts im Wald steht und anfangs nur darauf hofft, dass einen kein Spaziergänger oder gar Polizist erwischt – bis diese Angst durch ein Gefühl des Verzaubertseins vertrieben wird, welches die Unwirklichkeit der Situation in ein Gefühl der Freude verwandelt.
Heute noch gibt es Tage, an denen ich diesem Gefühl nachtrauere. Ich habe meine Lehrerin sehr geschätzt. Gescheitert ist sie am eigenen Anspruch, an sonst nichts. Wer Schüler ausbildet, der muss sich damit abfinden, dass diese Schüler eines Tages fertig ausgebildet sein werden und bei der weiteren Planung der Gruppe mitsprechen wollen. Mit dieser Problematik konnte sie nicht leben.
Sie konnte auch nicht damit leben, dass es mir eigentlich egal war, ob sie die Texte selbst erfunden oder wirklich aus einer jahrhundertealten Tradition übernommen hatte. Wichtig ist nicht die Herkunft einer Inspiration, wichtig ist, ob sie Wirkung zeigt. Und sie hat gewirkt, denn in mir ist ein Feuer geweckt worden, das bis heute nicht erloschen ist. Ich suche Wissen und suche Erfahrungen; ich will mich in meinem Suchen der Gottheit annähern und mein Leben mit dem Gefühl beschließen können, dass ich nach jenem Licht gestrebt habe, welches unser Leben beginnt, begleitet und beendet.
P.S.: Die Zitate an den Kapitelanfängen sind Texte aus den heiligen Texten meines Covens.
ZAUBERN OHNE GOTT?
Vorbemerkung
Das einzige, was der wahre Mensch aber wirklich besitzen kann, ist sein eigenes Ich. Alles andere ist das Nichts, in das wir eines Tages zurückkehren.78
Ein Text wie dieser kann keinen allgemeinen Zuspruch erwarten. Das Fragezeichen im Titel impliziert, dass ich eine Frage stelle, die ich – soweit möglich – beantworte. Das heißt aber nicht, dass jeder Mensch, der sich mit dieser Frage beschäftigt, zu denselben Antworten kommen muss wie ich. Ganz im Gegenteil. Es ist unsere Vielfalt, aus der wir Nutzen ziehen sollten, nicht unsere Gleichförmigkeit.
Ich möchte auch einleitend darauf hinweisen, dass man Gott im Titel und im Text gerne durch Göttin oder Göttliches ersetzen kann – ich finde Gott als Begriff hier lesbarer und für mich nachvollziehbarer. Man möge Nachsicht mit mir üben.
1. Zur Magie
Zwei Verschiebungen von Begrifflichkeiten sind im Rahmen der Industrialisierung erfolgt – die Verschiebung von weltlichen und die Verschiebung von magischen Begrifflichkeiten. Hierbei verstehe ich die Industrialisierung als den Übergang von einer eher naturnahen Gesellschaft hin zu unserer Industriegesellschaft. Der zeitliche Rahmen dieser Veränderung ist die Zeit zwischen 1650 und 1950, der von mir besprochene räumliche Rahmen umfasst Westeuropa sowie Nordamerika.
Diese Verschiebung von Begrifflichkeiten erfolgte in der Weltsicht des Heiden bzw. magisch Tätigen. Und diese Verschiebungen haben Rückwirkungen auf die Arbeit bzw. den Glauben (wobei ich beide Begriffe von den Verflechtungen her für nicht trennbar halte). Daher will ich auf diese beiden Verschiebungen länger eingehen.
a. Verschiebung von weltlichen Begrifflichkeiten
Die Bedeutung von Schrift und Geschriebenem hat sich in den letzten 500 Jahren in unserer Kultur grundlegend verändert. Angefangen bei den für magische Handlungen benutzten Bildern und Piktogrammen über die Silbenschrift und die Runen bis hin zu unserer Schrift hat sich die gesamte damit verbundene Kultur gewandelt.
Früher waren es nur wenige, die in der Lage waren, die geschriebenen Zeichen zu entziffern. Ihnen war auch Macht gegeben, da sie als Geschichtenerzähler, Barden und Priester benötigt wurden. Im Mittelalter war es so, dass die Klöster die Horte der Schreibkultur waren; die wichtigsten (und schönsten) mittelalterlichen Texte sind religiöser Natur.
Auf einer anderen Ebene hat sich auch das Erzählte vom Inhalt her verändert. Statt Sagas und Gedichten, die mündlich überliefert wurden, gab es später die festgefügten Märchen, die in einer bestimmten, unveränderlichen Form in einem Buch festgeschrieben waren.79 Seit der Entwicklung des Fernsehens wird nicht nur die Sprache festgelegt, sondern