Was ist eigentlich normal?. Группа авторов

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stark, die ethische Stabilisierungsleistung der Bestimmung normal nicht zu unterschätzen. Eine Welt ohne Sinn fürs Normale ist eine libertinistisch hoch gefährdete Welt.

      Reiner Anselm fragt mit Charles Taylor nach der Bedeutung der naturalen Grundlagen in Fragen der Lebensführung. Einerseits haben technologische Innovationen und gesellschaftliche Dynamiken zu einer Emanzipation von den körperlichen Grenzen beigetragen, andererseits entwickelt sich parallel dazu eine neue Achtsamkeit für den Körper. Die neue Hochschätzung des Körpers reibt sich mit der traditionell im Christentum gepflegten Hochschätzung des Geistlichen, die zu einer Spiritualisierung der Gottesbeziehung und einer Säkularisierung der Welt führten. Mind the gap! Jene von Schleiermacher, Barth und Bonhoeffer gemachten Vorschläge, den gap zu schließen, führen nach Anselm nicht ins Ziel. Neu formatiert, geht es um die Grundfrage von Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft. Die interpretierende Deutungsleistung der empirisch erforschten Wirklichkeitssicht durch transempirische Kategorien wie die Schöpfung muss Veränderung und Konstanz zusammendenken: Die Würde des Geschöpfs als Gestalter der Welt bleibt angesiedelt im Horizont der „Schöpfungsordnungen“. Biologisierung und Kulturalisierung werden aktuell in Dienst genommen, um die Einzigartigkeit des Individuums ins Zentrum zu rücken. Einem fixen Menschenbild wird der Abschied gegeben. Anselms Kritik: Wir benötigen ein überindividuelles, normatives Konzept des Normalen, um etwa zwischen Gesundheit und Krankheit zu unterscheiden. Dieses normative Konzept wird als schwach prädiziert, weil Abweichungen möglich, aber begründungspflichtig sind. Geschöpflichkeit beschreibt glücklich den Zwischenraum von „naturaler Festlegung und kulturalistischer Verflüssigung“.

      Stephan Schaede fordert in seiner theologisch-ethischen Reflexion der Normalitätsdynamik, in Fragen von Partnerschaft und Familie durchaus die zentrale Frage zu wagen: „Was ist in Sachen Familie und Partnerschaft eigentlich normal?“ Es komme allerdings darauf an, sich mit dieser Frage schwerzutun. Das unterlegt Schaede, indem er zunächst in einem ersten Teil acht Schwierigkeiten konturiert, Familie und Partnerschaft mit der Normalitätsbestimmung zusammenzuführen. Ein zweiter Teil expliziert, wie die Normalitätsfrage in Sachen Familie und schwierige Antworten Kontur gewinnen können. Schaede empfiehlt einen dialektischen Zugang zum Normalitäts- und Normativitätstopos. Der erlaube eine Normalitätsreflexion von Familie, die wenigstens vier Gewinne generiere. So könne ein Abschied vom überzogenen christlichen familialen Heiligkeitspathos eröffnet werden, über wirklich bewohnbare Lebensformen als Normalitätsgeneratoren neu nachgedacht werden, normalitätskritische Interventionen gegenüber neueren gesellschaftlichen Entwicklungen formuliert und Normalitätsstandards für eine sozialpolitische prägnante Positionierung etwa in Fragen der Steuergerechtigkeit herausgestellt werden.

      Arnulf von Scheliha führt in seinen Überlegungen zu einer Körperlichkeits- und Sportethik in fünf Schritten vor, wie eine christliche Normalitätsethik in Rückbindung an die christliche Überlieferung für die Sportethik produktiv werden kann. Erstens seien methodisch grundlegend Fitness, Spiel und Sport als Formen des menschlichen Selbstumgangs zu begreifen. Zweitens identifiziert er Spuren einer „Prädisposition“ von Sport und Spiel durch einen Normalitätsethos in der christlichen Anthropologie. Drittens markiert er „Grund- und Grenzreflexionen“ von Geschöpflichkeit in der protestantischen Theologie. Von Scheliha zeigt, wie in der Überwindung der klassischen Erbsündenlehre Körperlichkeit in die freiheitliche Entfaltung eigener Anlagen integriert wurde. Viertens entfaltet von Scheliha die Stärken der Figur des Spiels. Spiel sei Training in (christlicher) Exzentrizität (Wolfhart Pannenberg) und Einführung in die Sphäre des Sozialen mit ihren Rollen (Trutz Rendtorff), somit Einübung in die Normalität symmetrischer Rollen und ihrer Regelbeachtung. Fünftens steigert, wie von Scheliha abschließend exponiert, Sport so gesehen Körpertraining in der Perspektive von Spiel. Ein protestantischer Normalitätsethos kann plausibel machen, weshalb (Breiten-)Sport für einen Selbstbildungs- und Selbsttranszendierungsprozess produktiv wird.

      Cornelia Mügge orientiert in ihrem Beitrag zu Normalität und Normen in der Tierethik einleitend über Normalitätsverschiebungen in Sachen Zuschreibung von Normalität im Blick auf Ernährung. Zu beobachten sei folgende Tendenz: Die Rechtfertigungspflicht kehre sich allmählich um. Veganer*innen und Vegetarier*innen gelten nicht länger als transnormale Sonderlinge. Vielmehr werde Verzehr von tierischen Produkten und Tierhaltung zunehmend begründungspflichtig. Vor diesem Hintergrund blättert sie zunächst vier gängige Muster auf, mit denen die Normalität von tierischer Ernährung begründet wird. Es werde sich erstens entweder auf das Verhalten der Mehrheit berufen, oder es werde zweitens auf Tradition und Gewohnheit verwiesen. Drittens werde die Produktivität tierischer Ernährung für die Gesundheit ins Feld geführt. Viertens schließlich werde an die Natürlichkeit von Fleischverzehr appelliert. Diese vier Begründungslinien unterzieht Mügge der Kritik. Vorgestellt wird sodann eine vehement vegetarisch-vegan optierende Minderheitenposition in den Reihen des Protestantismus und die von der Mehrheit protestantischer Ethiker*innen vertretene kategoriale Differenz zwischen Mensch und Tier gegenübergestellt, die sich gleichwohl gegen Massentierhaltung und kosmetische Tierexperimente einsetzt. Mügge attestiert hier Normalität eine unübersehbare faktische Macht, die zwischen normativ ethischen Einsichten und dem realen Verhalten auszumachen ist. Es komme, so ergibt sich abschließend, alles an auf die Situationsbeschreibung des Normalen und auf eine präzise Konturierung des dialektischen Verhältnisses von Normen und Normalität.

      Ausgrenzungs- und Integrationspotenziale des Netzes untersucht in einem Essay Klaas Huizing. Normalitätsfiktionen sollen, so der Vorschlag, anhand der Idee einer gelingenden Lebensführung im Kontext mit anderen bewertet werden. In der Gelehrtenrepublik stehen sich zwei Deutungen gegenüber: Gelingende Lebensführung wird durch das Stichwort Steigerung (Korsch) und Steigerungsunabhängigkeit (Rosa) definiert. Rosa unterstellt, dass das Steigerungsmodell zwangsläufig in die Entfremdung führt, die durch Resonanzerfahrungen zu kurieren ist. Resonanzerfahrungen sind allerdings unverfügbar, verlangen Achtsamkeit, entschleunigen und garantieren gerade aufgrund ihrer zumindest partiellen Unverfügbarkeit Konstanz. Auch Leben im Netz kann eine Praxis der Freiheit sein. Als Kooperationsmonster vermag das Netz Normalität nahezu unbegrenzt zu fiktionalisieren, ist von der Idee her also eine Technik, die durchaus Spielräume der Flexibilisierung eröffnet und inklusiv wirkt. Zwingend freilich muss sich das Netz nicht in den Dienst von Freiheit und der Flexibilisierung von Identitätsmustern stellen, das Netz arbeitet auch als Normierungsmaschine, wie exemplarisch an den Selfies gezeigt wird: Selfies können als Ausdrucksnormierungsprozess gelesen werden oder aber als Ritualisierung einer gemeinsamen Lebenswelt. Die Funktion der alten Dame Literatur besteht darin, diesen Prozess distanziert zu begleiten, sich als Medium der Entschleunigung zu empfehlen und als Agentur des Außeralltäglichen zumindest eine Linderung der Entfremdung anzubieten.

      Wir danken dem Claudius Verlag, namentlich Dr. Martin Scherer für diesen feinen Publikationsort. Der Leiterin der Bildungsabteilung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, OLKRin Dr. Kerstin Gäfgen-Track, sowie der Bundeszentrale für Politische Bildung sei für die namhafte Unterstützung der Tagung gedankt, aus der diese Beiträge hervorgegangen sind.

      Im April 2020

       Klaas Huizing, Würzburg Stephan Schaede, Loccum

      REINER ANSELM

       Natürlichkeit als schwache Norm in der Medizinethik

      Über Vermeidliches und Unvermeidliches

      „Damit sind wir bei einer der tiefsten ungelösten Fragen der modernen westlichen Kultur angelangt.“1 Was Charles Taylor, sonst nicht gerade bekannt für solch emphatische Formulierungen, dabei in den Blick nehmen möchte, ist das Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit. Welche Bedeutung messen wir den naturalen Grundlagen für unser Selbstverständnis und für die Gestaltung unseres Zusammenlebens zu? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Christentum und die christliche Theologie?

      Der Hintergrund dieser Fragestellung

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