Was ist eigentlich normal?. Группа авторов

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ausgerichtete Grenzziehung verzichten, so könnte der Wunsch nach medizinischer Therapie nicht begrenzt werden, weder am Anfang noch am Ende des Lebens. Gleichzeitig aber wäre es schwer, gesellschaftliche Unterstützung für ein nur subjektiv empfundenes Krankheitsbild einzufordern. Medizinische Unterstützung stünde dann in der Gefahr, von einem Anspruchsrecht zur Freiwilligkeit degradiert zu werden. Die hier aufgeworfenen Fragen werden derzeit in der Debatte um die Fortpflanzungsmedizin konkret: Unter welchen Umständen haben ungewollt Kinderlose Anspruch auf medizinische Unterstützung? Nur dann, wenn die körperlichen Voraussetzungen eines Paares grundsätzlich gegeben sind und lediglich aktuale Beeinträchtigungen Empfängnis und Geburt eines Kindes unmöglich machen? Oder auch dann, wo im Falle gleichgeschlechtlicher Partnerschaften diese Voraussetzungen eben nicht gegeben, aber durch Fortpflanzungsmedizin substituiert werden können? Und genügen im letztgenannten Fall das individuelle Recht auf Fortpflanzung und das subjektiv empfundene Leiden, oder müssen solche Leistungen von der sozialen Akzeptanz entsprechender Maßnahmen sowie der Lebensformen, die damit verbunden sind, getragen sein?

      In dieser Debatte ist häufig darauf hingewiesen worden, dass – entgegen der Auffassungen, die mit der Figur des Naturrechts oder der Schöpfungsordnung argumentieren – die vorausgesetzten Normen als kulturelle Konstruktionen und damit zugleich auch als wandelbare Vorgaben betrachtet werden müssen. Insbesondere Judith Butlers frühe Arbeiten zum diskursiven und Macht repräsentierenden Charakter der Geschlechteridentität haben diesen Aspekt hervorgehoben8: Geschlecht, Identität, Subjekt und Körper haben keine naturale Grundlage, sondern kommen durch diskursive Praktiken zustande. In der daran anschließenden Diskussion ist allerdings – auch unter dem Eindruck gewisser Konzessionen in Butlers späteren Texten9 – hervorgehoben worden, dass eine solche Position Gefahr läuft, nach der Dekonstruktion des Subjekts keine Basis mehr bieten zu können für grundlegende Rechte, auch keine Basis mehr für den Widerstand gegen die Verletzung körperlicher Integrität. Zudem negiere eine solche Position des diskursiv hergestellten Körpers die nicht dekonstruierbaren weiblichen Besonderheiten von Schwangerschaft und Geburt. Statt sich, wie intendiert, der Emanzipation verpflichtet zu fühlen, leiste eine solche Theorie nur einem Machbarkeitswahn Vorschub, bei dem die menschliche Reproduktion selbst den Kräften der technischen Gestaltung und Normierung unterzogen werde. Dabei zeigt sich aber erneut die bereits angesprochene Ambivalenz eines Rekurses auf die naturalen Grundlagen unserer Existenz: Auf diese Weise kann nicht nur eine Norm begründet werden, die von den Einzelnen mit Blick auf ihre Lebensführung lediglich als Einschränkung individueller Freiheiten verstanden werden kann, sondern hier findet sich auch die Grundlage für eine Opposition gegenüber der beschränkenden Macht gesellschaftlicher Verhältnisse.

      Für die Ethik bedeutet das, einen Mittelweg zu suchen zwischen einer Position, die, wie der Hauptstrang kirchlicher Naturrechtsethik, die Individualität konkreter Personen unter eine allgemeine Norm zu fassen und darin beschränken wollte, und einer Position, die Natur und Körper als kulturelle Konstruktionen fasst und dabei selbst die emanzipativen Ziele in Gefahr zu bringen droht, für die sie sich eigentlich einsetzen wollte. Es gilt, wenn man so möchte, ebenso wenig einem ethischen Doketismus das Wort zu reden wie einer undifferenzierten Naturrechtsethik. Nur auf dieser Grundlage kann eine Sensibilität für die Einzigartigkeit, aber auch Verletzlichkeit von konkreten Personen erhalten und bestärkt werden. Dieser Mittelweg operiert mit einer schwach normativen Naturalität: Abweichungen, nicht zuletzt auch technisch assistierte Überwindungen dieser Naturalität sind nicht schon unter Verweis auf die Ordnung der Natur zurückzuweisen, sie sind aber begründungspflichtig. Dabei wächst die Begründungspflicht mit dem Maß der Abweichung, weil mit der bewussten Abweichung, erst recht mit deren technischer Gestaltung auch eine höhere Verantwortlichkeit einhergeht: Verantwortung kann nur im Blick auf disponible, nicht durch die biologischen Grundlagen festgelegte Handlungen übernommen werden. Dass die Grenzen hier im Einzelnen schwer zu ziehen sind und immer wieder neu abgewogen werden müssen, sollte deutlich geworden sein. Der besondere Beitrag der christlichen Ethik liegt dabei in der Kategorie der Geschöpflichkeit, die genau im Zwischenraum naturaler Festlegung und kulturalistischer Verflüssigung angesiedelt ist.

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