Was ist eigentlich normal?. Группа авторов
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Was ist eigentlich normal? - Группа авторов страница 5
Dies vor Augen, formuliert Taylor das angesprochene ungelöste Problem, und zwar nicht primär für die Fragen der Ethik, sondern vielmehr zunächst für das Selbstverständnis des Christentums: Wie lassen sich die gestiegene Aufmerksamkeit für den Körper mit der Hochschätzung des Geistes in den höher entwickelten Religionen, gerade auch dem Christentum zusammendenken?
Die Probleme entstehen in demselben Maße, in dem Gott als der eine, allmächtige, der Welt gegenüberstehende Andere gedacht wird: Pagane Kulte sind, darauf weist auch Taylor nachdrücklich hin2, dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Verbindung sehen zwischen Elementarfunktionen des Körpers und der Sphäre der Religion: Es gibt heilige Kriege, es gibt das Menschenopfer, das die Grenze zwischen Gott und Mensch überschreitet. Und es gibt auch so etwas wie eine heilige Sexualität, die ihrerseits die Grenze zwischen Göttlichem und Menschlichem überwindet. Restformen dieses Denkens finden sich auch im Christentum, allerdings treten sie im Verlauf seiner Entwicklung immer weiter zurück. Einen besonderen Schub erfährt dies durch die Kirchen der Reformation. Denn im Zuge von deren scharfer Unterscheidung zwischen Weltlichem und Göttlichem kommt es auch zu einer schroffen Trennung zwischen der Sphäre des Körperlichen, der Welt, und dem Geistigen bzw. Geistlichen. Die Reformatoren beharren ja bekanntlich darauf, dass eine Überwindung der Differenz zwischen Gott und Welt, zwischen der irdischen und der himmlischen Sphäre nicht von der Seite des Menschen, sondern allein von der Seite Gottes möglich sein kann. Inkarnation und Rechtfertigung sind die beiden Stichworte, die sich mit dieser Grundunterscheidung und der entsprechenden Neuvermessung verbinden. Nicht von ungefähr lässt die protestantische liturgische Praxis das Sinnlich-Körperliche fast vollständig vermissen.
Diese Grundentscheidung führt auf der einen Seite zu einer Spiritualisierung der Gottesbeziehung. Sie führt aber auch zu einer Säkularisierung der Welt, mithin zu zwei auseinanderlaufenden Tendenzen – und die Frage, wie diese beiden Fäden zusammenzuführen sind, beschäftigt die Theologie in der Folgezeit ebenso, wie es im Politischen und auch in der Ökonomie zu nicht unproblematischen Re-Sakralisierungstendenzen kommt. Theologisch sind es – nach den so nicht mehr zu haltenden Modellen der Barocktheologie und auch der frühen Aufklärungstheologie – vor allem die Modelle von Friedrich Schleiermacher und Karl Barth, die versuchen, die sich hier ergebende Lücke zu schließen. Schleiermacher favorisiert ein Modell, das die Gottesbeziehung in das Selbstbewusstsein des irdisch-körperlichen Menschen einzeichnet: „Anschauung des Universums [...] ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion.“3 Barth plädiert hingegen dafür, die Spannung so zu radikalisieren, dass außerhalb der Selbstoffenbarung Gottes in Christus keine Verbindung der beiden Sphären möglich ist: Religion, eigene Anschauung des Universums, wird dann zum Unglaube, weil „an die Stelle der göttlichen Wirklichkeit, die sich uns in der Offenbarung darbietet und darstellt, ein Bild von Gott [tritt], das der Mensch sich eigensinnig und eigenmächtig selbst entworfen hat“4. Beide Modelle bleiben aber letztlich auch unbefriedigend: Schleiermacher, weil er den Glauben im Bewusstsein ansiedelte, und damit eben zu keinem befriedigenden Ergebnis für die Frage nach der Bedeutung des Körpers kam, Karl Barth, weil er nicht nur ebenfalls zu keiner produktiven Deutung der Dimension des Körperlichen kommen konnte, sondern auch deswegen, weil sich seine schroffe Trennung letztlich nicht durchhalten ließ und an ihre Stelle entweder eine schwer kontrollierbare Vermittlung über den Geist am Ort des Einzelnen tritt oder aber eine Einholung des Einzelnen durch die ihn kontrollierende Kirche.
Beide Probleme versuchte Dietrich Bonhoeffer zu lösen, indem er vom Inkarnationsgedanken aus von einer besonderen Achtung für die natürliche Wirklichkeit sprach: „So gibt es das Christliche nicht anders als im Weltlichen, das >Übernatürliche< nur im >Natürlichen<, das Heilige nur im Profanen, das Offenbarungsmäßige nur im Vernünftigen.“5 Allerdings führt diese Position – auch wenn sie interessante Aspekte beinhaltet, zu neuen Fragen, nämlich zur Frage, wie sich diese Sicht der Wirklichkeit zu der empirisch wahrnehmbaren Wirklichkeit verhalten könne. Eben diese Frage ist es auch, die hinführt auf eine, vielleicht sogar auf die Grundfrage der Theologie der Gegenwart, dem Verhältnis nämlich von Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft. Diese Frage hat viele Facetten, die ich hier nur anreißen möchte, weil ich diese Grundfrage hier nun – Taylor im Rücken – enger fassen und auf die Ethik zuspitzen will.
Eine Grundfrage ist es, weil sich die Diochotomie, die von der Erkenntnis der Welt als Schöpfung und der Erkenntnis der Welt in der Perspektive der Naturwissenschaft spricht, als zunehmend unbefriedigend erweist. Denn die theologische Rede von der Schöpfung kann weder an die Stelle naturwissenschaftlich-empirischer Welterklärung treten, noch darf sie in einen Gegensatz zu ihr gebracht werden. Die Schöpfungslehre ist vielmehr an die naturwissenschaftliche Sicht der Welt und des Menschen verwiesen; hier wird das Wissen generiert, das die Erfahrungen von Menschen bestimmt und deren Deutung in der Schöpfungstheologie geleistet werden muss. Umgekehrt aber sind aus einer theologischen Perspektive auch alle Versuche zurückzuweisen, die aus der naturwissenschaftlichempirischen Weltwahrnehmung bereits die Kategorien zu deren Deutung entnehmen möchten. Insofern sind weder eine triumphalistische Überlegenheitsrhetorik gegenüber der Naturwissenschaft, noch eine apologetisch-defensive Rückzugsstrategie sachgerecht.
Während Erstere lange Zeit von den Vertretern der ersten Fakultät gepflegt wurde und auch noch das Denken einiger Vertreter der Dialektischen Theologie bestimmte, begegnet Letztere heute häufig in den an Friedrich Schleiermacher anknüpfenden Theoriemodellen, die Schöpfung strikt von jedem Anspruch der Welterklärung abheben und als einen innerlichen, fast spiritualistischen Akt der Selbstdeutung profilieren, ohne freilich deren Anschlussfähigkeit an das naturwissenschaftliche Denken noch als Herausforderung zu empfinden. Edmund Schlink hat hier durchaus zutreffend von einem „Doketismus in der Schöpfungslehre“ gesprochen.6 Eine solche Rückzugsstrategie liegt auch dort vor, wo Gott vorschnell als Urheber des Urknalls und als Prinzip der Evolutionsprozesse dargestellt wird. Denn hier wird im Grunde nur die alttestamentliche Schöpfungserzählung aktualisierend fortgeschrieben: An die Stelle der Wissenschaftskenntnisse der Babylonier treten nun Astrophysik und Evolutionstheorie, ohne dass es zu einer vertieften Auseinandersetzung zwischen theologischen und nicht-theologischen Zugängen zur Wirklichkeit kommt. Gerade als Deutung muss sich die Rede von der Schöpfung auf die gegenwärtig wahrgenommene Welt beziehen, und dazu gehört es, die naturwissenschaftlichen Theoriemodelle in ihrem Eigensinn und auch in ihrer Abweichung zur traditionellen christlichen Vorstellung ernst zu nehmen.
Die