Mann, Frau, Affe. Volker Hagedorn
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Mann, Frau, Affe - Volker Hagedorn страница 2
Kafka ist gar nicht so. So kafkaesk. Ich begegne ihm jetzt manchmal, mit einem Abstand von 85 Jahren zwar, aber nachbarschaftlich. Er wohnt bloß sieben Häuser weiter, an derselben Straße im Süden von Berlin. Kafka musste damals nicht den Strom der Autos abwarten, um sie zu überqueren und zum Botanischen Garten zu spazieren. Eine Viertelstunde brauchte er bis dahin, ziemlich zügig für seinen geschwächten Zustand. »Meine Gasse ist etwa die letzte halb städtische, und hinter ihr löst sich das Land in Gärten und Villen auf, alte üppige Gärten.« Das schrieb er aus seiner ersten Wohnung hier im Stadtteil, ehe er noch näher an die Gärten zog, in meine Straße. Meine?
Dass ich eigentlich in seine geraten bin, wusste ich zuerst gar nicht. Das ist auch besser so. Womöglich hätte es mich von der Gegend abgeschreckt. Ich verehre ihn, aber bis vor einiger Zeit fand ich ihn auch irgendwie unheimlich, als Typ, das ist schwer zu erklären. Dann kam ich an einer netten kleinen Villa vorbei, an der eine Gedenktafel hängt, las die Tafel und erfuhr, dass er da gewohnt hat, in seinem letzten Lebensjahr. Mit vierzig. Das Haus hat eine völlig unkafkaeske Ausstrahlung. Als Vorteile nannte der Mieter aus Prag ein sonniges Wohnzimmer, »Centralheizung und elektrisches Licht«. Er blieb nur zehn Wochen, ehe er mit seiner neuen Freundin woanders zusammenzog.
Aber Leute wie er sind immer da. Ich versuche ihn manchmal zu sehen, klein und viel zu mager und mit diesen großen Augen und seiner schräggestreiften Krawatte. Denn ich weiß, dass er hier rumlief, am Lidl vorbei, am Fahrradgeschäft, wo natürlich andere Geschäfte sich befanden, zum Rathausplatz, der damals noch keine städteplanerische Idiotie mit Asbesthochhaus war, aber mit Buchhandlungen dreimal so gut ausgestattet. Und ich finde ihn nicht mehr unheimlich. Seit Kafka für mich Passant ist und Mieter in der kleinen Villa, nicht mehr nur Dichter, hat er was Normales, ein Typ, der hier viel spazierengeht, freundlich, frisch verliebt, nicht berühmt.
Einmal gerät er irgendwie ins Lidl. Da guckt er sich die Kameras an, das triste Licht, die Warenstapel, sucht vergeblich nach Verkäufern, auch nach Produkten, die er ihrer Verpackung wegen nicht erkennen kann, das ist für ihn noch rätselhafter als für uns sein »Schloss«. Da kriegt er vor der Tiefkühltruhe einen Hustenanfall und will weg, und ich sage vorsichtig »Hallo, Herr Kafka« und führe ihn an der Kasse vorbei. Von da findet er den Weg zum Botanischen Garten, die Ampeln verschwinden, die Autos werden rar. Ich bin trotzdem nicht neidisch: Für seine zwei Zimmer muss er eine halbe Billion zahlen, wegen Inflation. Aber stolz bin ich schon auf ihn, den Mann aus Nummer 13.
Der Wind weht, wo er will
In glutheißen Tagen kaufte ich einen der letzten Sonnenschirme, die in der Stadt zu haben waren. Durchmesser gut zwei Meter, Sonderangebot: 19,90 Euro. Von der besonderen Eigenschaft gerade dieses Exemplars konnte da niemand etwas ahnen. Ich kaufte den Schirm und einen sandgefüllten Fuß dazu und schleppte beides ins dritte Obergeschoss. Der Balkon geht nach Süden. Die Luft, von keiner Brise gerührt, stand zitternd über dem Estrich, die Pflanzen ächzten vor Durst, obwohl sie morgens gegossen worden waren. Ich stellte den Schirm auf und entfaltete ihn. Sehr schön. Er beschattete fast den ganzen Balkon, das Orange passte schön zum Pflanzengrün und wirkte mediterran.
Ich setzte mich an den Schreibtisch und genoss das gemilderte Licht, das nun vom Balkon her ins Zimmer fiel. Nach wenigen Minuten wurde es auf einmal heller, ich blickte auf. Der Schirm war umgefallen. Da musste ein bisschen Wind aufgekommen sein, hatte sich aber schon wieder gelegt. Ich stellte den Schirm auf, da kam erneut Wind auf. Er griff so unters Tuch, dass die Stange sich aus dem Fuß zu heben drohte. Ich zurrte das Ganze mit Bindfäden fest. Der Wind wurde heftiger, aus heiterem Himmel. Also fixierte ich die Stange noch mit Spanngurten am Balkongeländer. Der Schirm konnte jetzt weder wegfliegen noch kippen. Der Wind wurde so heftig, dass die Speichen sich verbogen. »Also nee«, sagte ich, »so kann ich nicht arbeiten.« Ich klappte den Schirm zusammen.
Der Wind ließ nach. Ich hatte einen Verdacht, fand ihn idiotisch und versuchte es immer wieder. Tagelang. Schirm auf: Wind, Schirm zu: Ruhe. Es ist, als hocke auf einem Sims am Haus eine Windsbraut, die jedesmal, wenn dieser orangefarbene Kreis sich entfaltet, außer sich gerät. Als ich ihn mal eine Stunde lang offenhielt, schräg gegen die Böen gestemmt, folgten alsbald die ersten Gewitterstürme des Sommers. Vielleicht würden mir die Chinesen ein Wahnsinnsgeld für den Schirm bezahlen. Das olympische Segelrevier vor der Küste von Qingdao leidet nämlich unter chronischer Windstille. Aber wie heißt es in der Bibel? »Der Wind weht, wo er will.« Vorhersagbar am Wind ist nur, dass er bestimmt nicht so weht, wie ich oder die Segler es wollen.
Wobei das mit dem Schirm immer noch Zufall sein kann. Aber das mit dem Rauch kennt jeder. Setzen Sie einen Raucher und einen Nichtraucher an einen Tisch, einander gegenüber. Prüfen Sie die Luftbewegung. Entweder ist es windstill, oder es weht dem Raucher ins Gesicht. Gut. Der Raucher entzündet seine Zigarette. Und natürlich zieht jetzt der Rauch ganz genau auf den Nichtraucher zu, der Raucher muss die Kippe ausdrücken. Ist Gott Nichtraucher? Aber was ist dann mit dem Weihrauch? Werden nur die Konfessionslosen unter den Rauchern und Sonnenschirmbesitzern gestraft? Fragen, denen ich auf meinem Raucherbalkon nachsinne. In praller Sonne, unbeschirmt, während der blaue Dunst kerzengerade gen Himmel steigt.
You smiling! Bellissimo! Bambolotto!
Rodolfo ist in den allerbesten Jahren, also leicht über sechzig, schwarzer Schnauzbart über blitzenden Zähnen. Er trägt den Kragen seines weißen Hemdes hochgestellt und offen, so dass man die Goldkette sieht, und zur schwarzen Hose trägt er Zugstiefeletten. Den Männern legt er die Hand auf die Schulter, den Frauen macht er Komplimente, er redet laut in krachendem Englisch und singendem Italienisch. Ein italienischer Macho, wie er im Buch steht? Nein, so steht und geht er im Garten seines kleinen Hotels in der Toscana, stärker als jedes Klischee. Falls Rodolfo das Klischee bewusst ist, das die Völker nördlich der Alpen vom feurigen Südländer haben, zieht er es an wie sein Hemd, es beengt ihn nicht, er bewegt sich darin mit Freude.
Schon im Normalfall ist Rodolfo eine Frohnatur, die in die leisen Urlaubergespräche an den Tischen hineinfährt wie ein fröhliches Gewitter, aber seit das Baby da ist, ist endgültig Schluss mit der Ruhe. Denn Rodolfo ist nicht nur Macho in Reinform, sondern auch Babybewunderer, wie alle Italiener. Er hat eine Frau, »my beautiful wife«, wie er sie ruft, und eine schöne Tochter, vielleicht sehnt er sich nach Enkeln. Und da ist nun ein Paar mit einem kleinen Kerl angekommen, sechs Monate alt, den hat er sofort adoptiert. »Ahh!« schreit Rodolfo auf, sobald der Kleine, nennen wir ihn Frido, mit seinen Eltern zum Frühstück erscheint. Es sind Deutsche, eher die stille Sorte, und dem Furor des Wirts machtlos ausgeliefert.
»Ma ciao! Ma ciao!«, ruft Rodolfo und humpelt – Nachwirkung eines Skiunfalls – breit lächelnd zum Tisch. Frido strahlt übers ganze Gesicht, Rodolfo gerät außer sich. »You smiling! Bellissimo! Bambolotto!« Bambolotto heißt »dickes Baby«, in der Tat ist Frido von barocker Statur.«S’warzenegger!”, ruft der Hotelier, das ist noch der geringste der Vergleiche. Am zweiten Tag wird Frido mit George Clooney verglichen, am dritten Tag legt Rodolfo den Kopf schief, sagt »George Clooney? Pfff!« und zeigt mit dem Daumen nach unten: Gegen diesen Bambolotto hat Clooney keine Chance. Er habe, versichert der Hotelier den verlegen lächelnden Eltern, schon viele Babys gesehen, dieses sei das schönste. »Un Angelo!« Und er prophezeit ihm eine Karriere als Playboy.
Für ein Lächeln des Kerlchens tut er alles. Er schiebt tänzelnd und winkend die rote Müllkarre im Kreis herum, die er »my Ferrari« nennt und in die er die Frühstücksabfälle entsorgt. Dem Kleinen entgeht nichts. Ob er liegt oder sitzt, Brei verzehrt oder am Tischtuch zerrt, immer sieht er nach, was sein furioser Bewunderer gerade macht. Neue Gäste führt der Wirt zuerst zu Frido, »bellissima creatura del dio!«, und zwingt sie, ihm zu huldigen, ehe sie ihren Cappuccino bestellen. Einmal weint das Baby. Da macht es seine Mutter wie der Wirt: »Ma ciao! Ma ciao! Bambolotto!« Und tatsächlich, er strahlt. »S’warzenegger«,